Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,
auch uns haben die Auswirkungen des Corona-Virus und der damit verbundenen Maßnahmen erreicht. Dies bedeutet, dass alle angekündigten Veranstaltungen entfallen müssen. Dies betrifft insbesondere die Ausstellung „Warrior Women statt Pocahontas“, da das EineWeltHaus München bis auf unabsehbare Zeit geschlossen bleibt. Ob die Ausstellung dann über den ursprünglichen Zeitraum 31.03. hinaus verlängert wird, kann derzeit nicht eingeschätzt werden. Damit verbunden entfällt auch die Vorführung des Films „Warrior Women“. Wir werden die Dokumentation über Madonna Thunderhawk zu einem späteren Zeitpunkt hoffentlich nachholen können.
Während sich die meisten von uns trotz der täglichen Hiobsbotschaften und der gravierenden Einschränkungen noch einigermaßen im Alltag arrangieren können, dürfen wir nicht jene vergessen, welche einer wesentlich höheren Bedrohung ausgesetzt sind – dazu zählen nicht nur die 48.000 Obdachlosen auf Deutschlands Straßen oder jene 20.000, die allein in München auf die Lebensmittelversorgung der Tafeln angewiesen sind, oder die 42.000 Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln in den überfüllten Camps ohne hygienische Versorgung leben, sondern auch die Indigenen in USA und Kanada.
Corona-Virus und Indigene in den USA
In den USA haben sich (zum aktuellen Zeitpunkt) mindestens 4.661 Menschen mit dem Virus infiziert, wobei sich eine besondere Konzentration mit über 1.000 Infizierten allein im Südwesten der USA zeigt. Der Südwesten ist der Lebensraum zahlreicher indigener Völker, u.a. Dineh, Hopi, Havasupai, Apache, Pueblo. Die berühmten Wasserfälle Havasu Falls mussten bereits geschlossen werden, um eine Gefahr der rund 200 Indigenen in Supai durch infizierte Touristen zu reduzieren. Eine Gesundheitsversorgung in dem Dorf inmitten des Grand Canyon ist nicht möglich.
Auch für die größte Reservation der Navajo Nation mit 150.000 Dineh ist die hygienische und medizinische Versorgung äußerst problematisch. Nur den wenigsten Touristen, die sich an den Sehenswürdigkeiten wie Monument Valley oder Grand Canyon ergötzen, dürfte bekannt sein, dass nur 40% der Häuser über fließend Wasser verfügen. Für die ganze Region gibt es nur elf ambulante „Gesundheitszentren“, von denen nur wenige über einen 24-Stunden-Service verfügen und die meisten abends und an den Wochenenden geschlossen sind, sowie eine Klinik, das Fort Defiance Indian Hospital. Die Navajo Nation verkündete präventiv den Notstand im Reservat. Da nicht alle Dineh Englisch sprechen, gibt es inzwischen eine eigene Übersetzung in ihre Sprache – COVID-19 heißt nun „Dikos Ntsaaígíí-19“ (www.ndoh.navajo-nsn.gov) .
Auch in den Bundesstaaten North und South Dakota entspricht die medizinische Versorgung keineswegs den notwendigen Standards. Nachdem ein Mitarbeiter des Indian Health Service (IHS), des indianischen Gesundheitsdiensts, auf der Yankton Sioux Tribe Reservation in South Dakota vergangene Woche positiv auf COVID-19 getestet wurde, beschloss die Schulbehörde die Schließung der Marty Indian School. Am Freitag, den 13.03., verkündete die Stammesregierung eine „Declaration of Disaster“, d.h. den Katastrophenzustand für das Reservat. Sämtliche Einrichtungen und Büros wurden geschlossen und es wurde ein Reiseverbot verhängt.
Für die Indigenen – ob im Südwesten oder in den Plains – ergibt sich eine besonders prekäre Situation, da die Familien auf engstem Raum zusammenleben, darunter natürlich auch die Alten, die vom Corona-Virus wesentlich stärker betroffen werden. 51% der Indigenen in South Dakota leben zudem unterhalb der Armutsgrenze (Desinfektionsmittel können sie sich nicht leisten) und viele Indigene misstrauen dem Indian Health Service, so dass sie keine Hilfe von staatlicher Seite in Anspruch nehmen, was einer Ausbreitung des Virus weiteren Vorschub leisten könnte. Misstrauen und Angst sind historisch begründet: Seit Beginn der Kolonialisierung wurden immer wieder Krankheiten und Seuchen gezielt gegen die indigene Bevölkerung eingesetzt.
Am 10.03. erklärte bereits Oglala-Präsident Julian Bear Runner den Notstand, nachdem der Oglala Sioux Tribe bis dato vom IHS keinen einzigen Virentest zur Verfügung erhielt.
An der Gesundheitsversorgung der Indigenen in den USA wurde schon immer gespart und dies kann nun angesichts der Corona-Pandemie verheerende Folgen nach sich ziehen, denn es fehlt an allem: Virentests, Medikamente, Bettenkapazitäten, medizinisches Personal etc.
Auf Initiative von Senator Tom Udall (Demokrat aus New Mexico) haben 27 Senatoren ein sofortiges Hilfspaket für die indianische Gesundheitsversorgung in Höhe von $ 40 Millionen gefordert. Auch das US-Abgeordnetenhaus hat ein Notprogramm in Höhe von $ 64 Millionen für 2,5 Millionen Indigene in den Reservaten eingebracht, das noch auf die Zustimmung durch den Senat wartet. Der National Council of Urban Indian Health drängt jedoch darauf, auch finanzielle und medizinische Hilfen für die Indigenen jenseits der Reservate zur Verfügung zu stellen, die meist ohne jede Gesundheitsversorgung in den Städten leben und inzwischen die Mehrheit der indigenen Bevölkerung bilden. Bei der letzten großen Grippe-Epidemie 2009 lag die Sterblichkeitsrate der Indigenen viermal höher als der US-Durchschnitt.
Auch wirtschaftliche Auswirkungen der Pandemie haben „Indian Country“ erreicht: Inzwischen wurden mehrere indianische Casinos geschlossen, nachdem ein Mitarbeiter in Oregon sich mit dem Corona-Virus infiziert hatte.
Corona-Virus und Indigene in Kanada
Zur Stunde beläuft sich die Zahl der Infizierten in Kanada zwar „nur“ auf 477 Personen, aber dies kann sich wie in anderen Ländern auch rasant ändern. Premierminister Justin Trudeau, der sich seit einer Woche in selbstgewählter Quarantäne in seinem Haus in Rideau, Quebec, befindet, nachdem seine Frau Sophie positiv auf COVID-19 getestet wurde, erklärte am 17.03. die Schließung der kanadischen Grenzen für alle Nicht-Kanadier – mit Ausnahme der US-Amerikaner – und versprach, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen.
Die Ministerpräsidenten von Alberta und British Columbia, wo sich die Infektionsfälle besonders häufen, kamen ihm bereits zuvor. In der Pazifikprovinz wurden offiziell 103 infizierte Personen und vier Todesfälle bestätigt. Auch hier wird mit Schließungen, Heimarbeit und „sozialer Distanz“ reagiert, um größere Menschenansammlungen und damit weitere Ansteckungen zu verhindern.
Wie auch in den USA sind die indigenen Gemeinden in Kanada kaum gerüstet für die aktuelle Situation – gerade in British Columbia, wo viele indigene Völker in kleinen Reservaten mit völlig überbelegten Häusern ohne fließend Wasser leben, die weder über Ärzte noch über medizinische Einrichtungen verfügen und Patienten in weit entfernte Kliniken geflogen werden müssten.
Völlig überfordert erklärte Marc Miller, Kanadas Minister für indigene Dienstleistungen, am 10.03., die Regierung sei sich der besonderen Bedrohung der Indigenen bewusst und arbeite an einem Notfallplan für die indigenen Gemeinden, der auch die Versorgung mit Hygienepräparaten und Flaschenwasser sowie Notzelten vorsehe. Der Notfallplan der Regierung ist ein erschreckendes Armutszeugnis für die Missachtung der Indigenen. So kritisierte Nunavuts Senator Dennis Patterson die völlig unzureichenden Pläne: „Auf welchem Planeten lebt die Regierung eigentlich. Dies ist die Arktis. Ich will hier keine COVID-19-Opfer in Zelten bei Minusgraden inmitten von Eis und Schnee um Luft ringen und leiden sehen.“
Ungeachtet der Ankündigung von Miller musste selbst Gesundheitsministerin Patty Hajdu einräumen, dass es trotz der prognostizierten Infektion von 30-70% aller Kanadier bislang für die Indigenen keine konkreten Einschätzungen, Empfehlungen oder gar Maßnahmen gebe. Die Regierung, die die Band Councils (Stammesverwaltungen) der First Nations gerne unter Kuratel stellt, wenn es um Ressourcenfragen geht, erklärt nun, man erkenne die „Autorität“ der Band Councils an, geeignete Entscheidungen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus zu treffen. Sprich: Ottawa lässt die Indigenen einfach im Stich.
Am vergangenen Donnerstag, den 12.03., war ein Treffen zwischen Trudeau, den Minister-präsidenten der Provinzen und Vertretern indigener Organisationen geplant, das jedoch aufgrund von Trudeaus selbstgewählter Quarantäne abgesagt wurde. Stattdessen hielt Trudeau nur eine Telefonkonferenz mit den Funktionären der Assembly of First Nations, Inuit Tapiriit Kanatami und des Metis National Council ab, welche nicht die Gesamtheit der Indigenen repräsentieren.
Corona-Virus und der Widerstand der Wet’suwet‘en
Das Corona-Virus dürfte nicht der einzige Grund gewesen sein, weshalb Trudeau lieber nicht mit der indigenen Basis konfrontiert werden wollte. Hatte er unlängst noch versprochen, die UN-Deklaration der Rechte der indigenen Völker (UNDRIP, 2007) in kanadisches Recht umsetzen zu wollen, zeigte sich in den vergangenen Wochen, wie wenig das Wort des Premierministers wert ist, wenn es um indigenes Land und die Mitsprache der Indigenen bei der Nutzung von Ressourcen geht – dem Kernprinzip der UNDRIP.
Am 6. Februar 2020 hatte die Bundespolizei RCMP das Protestcamp der Unist’ot’en in British Columbia gestürmt, mit dem sich die Indigenen und die traditionellen Chiefs gegen die Coastal Gaslink von LNG Canada wehren, denn die Gaspipeline führt vom Nordosten der Provinz quer durch das traditionelle Land der Wet’suwet’en bis nach Kitimat an die Pazifikküste.
Seitdem sorgen die Proteste in ganz Kanada für Schlagzeilen, während in Europa niemand darüber berichtet. Indigene und Unterstützer organisierten im ganzen Land Demos und Mahnwachen, errichteten Blockaden, legten insbesondere mit Unterstützung der Mohawk den Bahnverkehr im Osten Kanadas lahm und besetzten Brücken und Regierungsgebäude. Die Welle der Aktionen und der Solidarisierung mit den Wet’suwet’en erinnerte an den Aufbruch der „Idle No More“-Bewegung 2012, die unter Trudeaus Vorgänger Stephen Harper Kanada erschütterte, aber auch an Oka 1990, als die Mohawk in Quebec ihr Land und ihre Rechte durch eine 270-tägige Blockade verteidigten.
Vor dem Treffen mit Trudeau hatte AFN-Chief Pierre Bellegarde noch die Bedeutung der UNDRIP als „Mittel der Versöhnung“ (Trudeaus Lieblingsphrase) beschworen, die dann der Tagesaktualität um das Corona-Virus geopfert wurde.
Der Widerstand der Wet’suwet’en und ihrer Unterstützer ist ungebrochen, doch angesichts der Corona-Pandemie lassen sich die bisherigen Mittel und Methoden nicht aufrechterhalten, weshalb sie die Aktivitäten nun ins Digitale verlagern. Mit einem Aufruf vom 16.03. fordern Sie uns zu einer „Woche der Online-Aktion“ auf und bitten um Briefe und Emails sowie Posting in den sozialen Medien zur Unterstützung ihrer Forderungen (Info-update unter https://www.instagram.com/gidimten_checkpoint).
In Solidarität mit dem indigenen Widerstand
Monika Seiller
Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte e.V.
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Indianer-Netzwerk
Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte e.V. (AGIM) ist ein gemeinnütziger Verein (gegr. 1986) zur Unterstützung der Rechte der indigenen Völker Nordamerikas und Herausgeberin des Magazins COYOTE.
AGIM e.V. (Action Group for Indigenous and Human Rights, est. 1986) is a non-profit human rights organization dedicated to supporting the right to self-determination of Indigenous peoples in North America. We publish a quarterly magazine COYOTE.
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