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Zwischen Kassandra und Hofnarr?

Werbelogo der Buchmesse 2020 Zur Außendarstellung indigener Kultur in Kanada

von Dionys Zink
(veröffentlicht 123/2020)

Es ist eine Binsenweisheit, dass man ein Buch nicht nach seinem Umschlag oder Titelbild bewerten sollte, man muss es eben lesen. In unserer Auswahl an Neuerscheinungen aus Kanada, anlässlich der verschobenen Frankfurter Buchmesselink-external 2020 – Kanada wäre in diesem Jahr das Gastland gewesen – fallen gleich zwei Titel auf, deren äußere Gestaltung nicht recht zum Inhalt passen will. Vielleicht sollte man dies zum Anlass nehmen, die eigenen Sehgewohnheiten und Sichtweisen zu überprüfen.

Nachdem sich neue Indianerliteratur in Europa schrittweise aus der Undergroundpresse der 1960er und 70er Jahre in etablierten Medien-Biotopen verbreitete, war die typische Buchgestaltung noch immer den ikonischen schwarz-weißen bzw. sepiabraunen Bilderwelten eines Edward S. Curtis verhaftet. Kaum ein Buch erschien vor 1990, das nicht mit den ikonischen Illustrationen gefiederter Häuptlinge illustriert war. Nicht selten war auch noch die typogra-phische Gestaltung beeinflusst, so erschienen manche Taschenbücher sogar in sepiabrauner Textdruckfarbe.

In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzte sich dann allmählich ein neueres Erscheinungsbild durch, das den verzerrenden Historismus hinter sich ließ. Tribale Patterns und Logos verdrängten die fragwürdigen Inszenierungen des „Vanishing Indian“, deren romantische Nostalgie weder zum Überlebenskampf nordamerikanischer Ureinwohner der Gegenwart noch zur Vitalität ihrer zeitgenösssischen Kulturen passen wollte.

Im Idealfall ist es also scheinbar ganz einfach: Der Umschlag, das Cover oder das Titelbild passen zum Inhalt des Textes und machen Werbelogo der Buchmesse den Leser neugierig darauf.

Was viele übersehen, die sich für das breite Spektrum an Indianerliteratur und andere Zeugnisse der indigenen Gegenwartskultur interessieren, ist der Umstand, dass nicht wenige Titel nur deswegen in deutscher Sprache erscheinen können, weil sich einerseits Kleinverlage und andererseits staatliche kanadische Institutionen aktiv darum bemühen. So erschienen einige der in dieser Ausgabe des Coyote rezensierten neuen Buchtitel ausdrücklich mit der Förderung des Canada Council for the Arts. Das Canada Council unterstützt dabei vor allem die Arbeit von Übersetzern.

Das Canada Council ist eine Einrichtung, die dem Canadian-Heritage-Ministerium untersteht und dem Parlament sowie der Regierung budget-verantwortlich ist. Wie die Canadian Broadcasting Corporation (CBC) ist das Canada Council am ehesten mit einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung nach britischen Vorbild, ähnlich wie z.B. die BBC, zu vergleichen. Das Kulturgremium verfügt über einen jährlichen Etat von aktuell etwa 230 Mio. Euro.

Ein bedeutender Teil der Aktivitäten des Canada Council ist der Außendarstellung des Landes gewidmet, von daher bestehen enge Verbindungen auch zum Außenministerium und den diplomatischen Vertretungen Kanadas. Beispielsweise bereitete das Canada Council den Auftritt des Landes bei der Frankfurter Buchmesse 2020 vor, der nunmehr auf den Herbst 2021 verschoben ist. In Zusammenarbeit mit dem Canada Council wurden allein für diesen internationalen Auftritt Projekte mit 174 Kunst- und Kulturschaffenden und Verlagen aller Richtungen initiiert.

Weil das Canada Council in der Förderung indigener Projekte einen besonderen Schwerpunkt verfolgt, sind die aktuellen Neuveröffentlichungen also eigentlich keine Überraschung. Nachdenklich macht da eher ein anderer Umstand. Nahezu alle neuen Texte mit indigenem Bezug weisen einen ausgesprochen kanada-kritischen Gehalt auf. Selbst ein eher historischer Text wie die authentische Fassung von „Klee Wyck“ (diese und andere Buchbesprechungen auf den folgenden Seiten) kann auch als Anklage des Internatsschulsystems und der staatlich geförderten Missionsarbeit zu Beginn des Jahrhunderts gesehen werden. „Taqawan“ thematisiert nicht nur den Rassismus in Quebec, sondern auch die landesweit und bis in die Gegenwart verbreitete Gewalt gegen indigene Frauen.

Der große Absturz – Geschichten aus Kitchike“ bringt die Alltagskorruption in den Reservationen zur Sprache, die nach dem Indian Act verwaltet und regiert werden, also nach dem zentralen Gesetz, welches die Beziehungen zwischen den Ureinwohnern und der kanadischen Bundesregierung regelt. Die Auswahl der zu fördernden Projekte des Canada Councils nimmt ein weitgehend unabhängiges Gremium vor, das aus Fachleuten besteht, die sich durch Professionalität und eigene künstlerische Leistungen ausgezeichnet haben. Bei der Auswahl werden jedoch auch der soziale Hintergrund und die regionale Herkunft berücksichtigt. Dieser Berufungsprozess, der natürlich wesentlichen Einfluss auch auf die inhaltliche Arbeit des Canada Councils hat, sorgt auf der anderen Seite für eine größtmögliche (politische) Unabhängigkeit des Gremiums.

Wenn aber die mit öffentlichen Geldern geförderte Literatur und Kunst, die Dokumentarfilme des National Film Boards und die weitgehend unabhängige Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien die indigene Realität in Kanada zutreffend abbilden, muss man sich schon fragen, warum all diese Anstrengungen in der Realpolitik so offenkundig folgenlos bleiben.

Der Beobachter gewinnt damit den Eindruck, dass sich nicht nur einzelne kritische Geister um eine Korrektur des im Ausland verbreiteten Image Kanadas bemühen, sondern ganze Heerscharen in öffentlichen Institutionen daran arbeiten. Genau das mache eben die kanadische Liberalität und ihr besonderes soziales Gewissen aus, wird dann gerne (und zumeist in grundsätzlichem Wandel aber Abgrenzung zu den bösen US-Amerikanern) betont. Von außen betrachtet wirken diese Inszenierungen jedoch manchmal eher wie Auftritte, die zwischen Kassandra und der Figur des Hofnarren changieren. In beiden Rollenfächern ist es erlaubt, die Wahrheit auszusprechen und die Mächtigen in Politik und Wirtschaft zu kritisieren, Leitlinien des Handelns oder gar eine Pflicht zur Verantwortung wird aber nicht daraus abgeleitet.

So ergibt sich ein eher gemischtes Fazit. Die teilweise exzellente Arbeit der kanadischen Kulturinstitutionen vermittelt nach innen wie nach außen das Bild, wie sich die Kanadier gerne sehen und wie sie gerne von anderen gesehen werden wollen. Den Autoren, Verlagen, und anderen Entscheidungsträgern und Organisatoren in den Fördergremien muss unsere Sympathie gelten. Ihre Arbeit trägt aber auch dazu bei, dass das Image vom toleranten und weltoffenen Land vermittelt wird, in dem die Realität aus indigener Perspektive zwar sichtbar wird, eine Notwendigkeit zu einem tiefgreifenden und grundsätzlichem Wandel aber nicht erwächst. Um es abschließend mit Bertolt Brechts „Me-ti, Buch der Wendungen“ zu sagen: „Sind die Institutionen gut, muss der Mensch nicht besonders gut sein. Freilich ist ihm dann die Möglichkeit gegeben, es sein zu können.“

Darrell J. McLeod: Mamaskatch (Cover 2020 Douglas & McIntyre)

Einen eigenen Schwerpunkt der indigenen Literatur aus Kanada bildeten Romane zur queeren oder Trans-Identität, die außergewöhnliche Autorinnen und Autoren erstmals dem deutschen Publikum näherbringt, u.a. Darrell McLeod (siehe Rezension).
Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Montag, 11. Januar 2021 09:33:23 CET von oliver. (Version 14)

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