Am 27. Februar 2023 kamen sie aus vier Richtungen und versammelten sich am Wounded Knee Memorial. Die Kampfgefährten von einst versammelten sich an dem Ort der Erinnerung, wo sie nicht nur der Toten des Massakers von 1890 gedachten, sondern auch der Aktivisten von 1973, die an diesem Tag nicht unter ihnen sein konnten — AIM-Aktivisten wie Russell Means oder Dennis Banks, die inzwischen verstorben sind, oder Leonard Peltier, der seit über vier Jahrzehnten im Gefängnis sitzt. Aber sie gedachten vor auch derjenigen, welche damals ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten: Frank Clearwater und Buddy Lamont starben im Kugelhagel während der Besetzung. Rund 60 Aktivisten fielen in den Folgejahren dem Terrorregime des damaligen Stammespräsidenten Dick Wilson, FBI und Rassisten zum Opfer.
Als die Indigenen sich jetzt zum 50. Jahrestag der Besetzung von Wounded Knee versammelten, erinnerten sie sich daran, dass 1973 die Wiedergeburt indianischer Identität eingeleitet wurde. Die Aktivisten von einst mögen in die Jahre gekommen, doch der damalige Widerstand hat eine neue Generation hervorgebracht, die sich noch immer für den gleichen Traum einsetzt: Selbstbestimmung. Die Besetzung von Wounded Knee bedeutete eine entscheidende Wende — für die Indianer und für deren Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Ohne die eingehende Auseinandersetzung mit dem Ereignis, der Vorgeschichte und den Folgen, ist ein Verständnis für die heutige Situation der Indianer nicht möglich.
“Wounded Knee zeigte der Welt, dass John Wayne nicht alle Indianer getötet hatte.” (Russell Means)
Indianer. Da waren sie wieder. Plötzlich mitten im deutschen Wohnzimmer im Frühjahr 1973. Doch das, was die Tagesschau uns zeigte, hatte nichts mit den Indianern aus den Karl May-Filmen gemein. Diese Indianer waren keine Schauspieler mit schlechtsitzenden Perücken. Hier kämpften zornige junge Männer und entschlossene traditionelle Indianerinnen nicht nur gegen das Bild der „Vanishing Race“, das sich in vielen Köpfen festgesetzt hatte, sondern auch gegen reale Missstände. Pine Ridge war auf einmal in den Schlagzeilen, und verwundert schaute man auf ein Amerika, in dem sich FBI, Polizei und Indianer heftige Schusswechsel lieferten. Inzwischen kannte man die Bilder vom Vietnamkrieg, doch nun ging es nicht um einen blutigen Krieg im fernen Asien, sondern um eine Front mitten in den USA.
Natürlich leisteten nicht nur die jungen AIM-Mitglieder Widerstand gegen das korrupte Regime des damaligen Lakota-Stammespräsidenten Dick Wilson, sondern vor allem traditionelle Indianer, die ihr Land und ihre Kultur gegen die Ausbeutung durch gierige Politiker und Konzerne verteidigen wollten und sich dabei dem Terror von Wilsons Schlägertrupps ausgesetzt sahen. Doch sie standen ebenso wenig im Mittelpunkt des Interesses wie die Frauen, welche AIM um Hilfe gerufen hatten. Medien und Politik sahen vor allem eine neue Generation von Indianern, die sich von der Opferrolle emanzipierten und aktiv für ihre Rechte kämpften.
Nach Jahrhunderten der Ausrottung hatte George Armstrong Custer erklärt, “Wir erblicken den Indianer nun am Rande der Auslöschung… bald wird man von ihm als einer edlen Rasse erzählen, die einmal gelebt hat, aber ausgestorben ist.” Nach den Indianerkriegen im 19. Jahrhundert und dem Verschwinden in den Reservaten, schienen die Indianer der Vergangenheit anzugehören. Als sie Anfang des 20. Jahrhunderts in Buffalo Bill’s Wildwest-Shows auftraten, schienen sie nur noch ein Schatten ihrer Vergangenheit. Auch im 20. Jahrhundert wurden die Indianer weiter unterdrückt und marginalisiert, doch nun war ein Punkt erreicht, an dem sie ein Zeichen setzen wollten. Sie wollten der Welt zeigen, dass sie überlebt haben — trotz der anhaltenden Versuche, ihr Land, ihr Leben und ihre Identität zu zerstören.
Landraub und Assimilierung
Wenn man die Entwicklungen verstehen will, welche zu einem neuen Widerstand in den 60er und 70er Jahren und schließlich zur Besetzung von Wounded Knee führten, muss man sich die historischen Faktoren und die damaligen Lebensbedingungen in Erinnerung rufen.
Wollte die US-Regierung das Land weiter erschließen und nach Westen vordringen, brauchte sie einen Friedensschluss mit den Indianern. Mit der Einrichtung der Great Sioux Reservation 1851 und der Anerkennung ihrer Landrechte im Vertrag von Fort Laramie 1868 sollten die Indianer “befriedet” werden, doch wie stets in der indianischen Geschichte war auch dieser Vertrag nur ein Täuschungsmanöver, an das sich die Regierung nicht gebunden fühlte. Kontinuierlich wurde das ursprüngliche Reservat reduziert und der Vertrag gebrochen. Die Tinte auf dem Vertrag war noch nicht trocken, als die Regierung begann, das Land zu stehlen, die Kinder aus den Familien riss und Missionare schickte, welche aus den Indianern gute Christen machen sollten.
1886 wurde mit dem Dawes Act die weitere Zersplitterung indianischen Landes betrieben. 1902 wurde der General Allotment Act, wie das Gesetz auch genannt wird, in Pine Ridge umgesetzt und führte dazu, dass das einst gemeinschaftliche Stammesland in kleine Parzellen aufgeteilt und den einzelnen Familien zugewiesen wurde. Das übrige Land wurde von der Regierung an Weiße verkauft oder verpachtet. Auch indianische Familien waren oft aus wirtschaftlicher Not gezwungen, ihr Stück Land an weiße Farmer zu verpachten — die Preise hierfür wurden vom BIA festgesetzt. Das Ergebnis war ein Patchwork aus indianischen und weißen Landbesitzern. Von den verbliebenen 12.000 Quadratkilometern — ein Bruchteil des ursprünglichen Landes — ist heute ein Drittel in weißer Hand, der Rest befindet sich in Besitz der indianischen Familien sowie des Stammes. In den 1970ern hatten die Lakota bereits zwei Drittel ihres Landes verloren und die Regierung wollte ihnen noch mehr wegnehmen, um Uran für ihre Atomwaffenproduktion abzubauen und die Ressourcen an Kohl, Öl und Wasser auszubeuten.
Durch die Zerstückelung war den Lakota eine erfolgreiche Landnutzung kaum möglich. Die meisten Unternehmen und Handelsposten waren in weißer Hand und mehr als die Hälfte der Lakota war damals arbeitslos. Jobs gab es nur in der Stammesverwaltung oder beim BIA. 1973 gab es 54% Arbeitslosigkeit im Reservat (2023 sogar über 80%!) — und 137 Kirchen in Pine Ridge. Die Lebenserwartung der Lakota lag bei 46 Jahren (daran hat sich bis heute nicht viel verändert).
Aber den Indianern wurde nicht nur das Land genommen, sondern auch ihre Selbstbestimmung. Mit der Einrichtung des BIA 1871 wurden die Indianer zu Mündeln der Regierung ernannt, deren Verwaltung einem Indianeragent unterstellt wurde, der wie ein Diktator über das Schicksal der Indianer bestimmen konnte. Doch dies war nicht genug, denn nun sollten auch die Indianer selbst Teil dieses Systems werden, indem 1934 mit dem Indian Reorganization Act, die Einführung von Stammesräten verfügt wurde. Nun mehr sollte die Verwaltung der Reservate durch die nach “demokratischem” Prinzip gewählten Stammesräte erfolgen – traditionelle Strukturen sollten damit für immer ausgemerzt werden. Die beschönigte “Selbstverwaltung” übernahmen in den meisten Fällen diejenigen, welche durch Missionierung und Internatsschulen dem American Way of Life assimiliert wurden.
Pine Ridge unter Dick Wilson
In Pine Ridge wurde im April 1972 Dick Wilson zum Stammesratsvorsitzenden des Lakota Tribal Council gewählt. Traditionelle Oglala waren für Wilson ein Relikt der Vergangenheit, denn sie stellten sich angeblich dem “Fortschritt” im Indian Country in den Weg. Der assimilierte Wilson wollte den wirtschaftlichen Erfolg. Unter dem Motto, “Es gibt kein Gesetz gegen Nepotismus” Vetternwirtschaft, machte sich der gelernte Klempner sofort daran, Familie und Freunde mit Pöstchen in der Stammesverwaltung zu versorgen und seine Macht auszubauen. Wilson ignorierte den Stammesrat und setzte ein Sonderkomitee ein, das Tribal Executive Committee, mit dem er seine Politik durchsetzte – gegen die Stammesgesetze. Verträge mit weißen Unternehmern und Unterschlagung von Stammesgeldern sollten vor allem Wilsons Tasche füllen. Um seine Interessen durchzusetzen, schuf sich Wilson einen Schlägertrupp, der sich zynisch “Guardians of the Oglala Nation” (Goon), also “Hüter der Oglala Nation” nannte, doch beschützt wurden nicht die Oglala, sondern allein Wilsons Interessen. Wer sich ihnen in den Weg stellte, musste mit dem Besuch der Schlägertruppe rechnen — vor allem Traditionalisten und Aktivisten, die sich gegen die Ausbeutung des Landes wehrten.
Wilson hatte leichtes Spiel, denn sein völlig korruptes System wurde von Regierung und Behörden gestützt. Für die weitere Ausbeutung des Landes war er der richtige Handlanger. Zudem gab sich Wilson als strenger Anti-Kommunist — ein wichtiger Faktor in einer Zeit, in der die USA die Kommunisten in Vietnam bekämpften und sich mit der Sowjetunion einen kalten Krieg lieferten.
Die Verhältnisse unter Wilson wurden immer unerträglicher, wie sich Ellen Moves Camp, eine der führenden Frauen bei der Besetzung von Wounded Knee, erinnerte „Vom ersten Tag als Stammespräsident der Lakota an, gebärdete sich Wilson wie ein Alleinherrscher, und es ist traurig zuzugeben, doch unsere eigenen Leute gingen seinen Versprechungen und seinem Geld auf den Leim. Sie waren so verzweifelt, dass sie diesen Typen ins Amt wählten, der bereits kurz darauf begann, sich mit seinen Schlägertrupps zu umgeben und Pine Ridge mit seiner Willkürherrschaft zu terrorisieren. Die Regierung versorgte ihn und seine Goons mit Waffen. Sie schüchterten die Leute ein, schlugen sie zusammen oder setzten Häuser in Brand. Wer es wagte, etwas gegen Wilson zu äußern, musste mit schweren Repressalien rechnen. Und nirgends gab es mehr Schutz vor seinem Terrorregime. “Nachdem ich meinen Job beim Gesundheitsdienst verloren hatte, weil ich mich gegen Wilson ausgesprochen hatte, drohten sie mir, sie würden meinen Kindern etwas antun.”
Für die traditionellen Oglala stand fest, sie brauchten dringend eine Lösung. Das war der Moment, in dem sie AIM um Hilfe baten.
American Indian Movement
Die 60er Jahre in den USA waren eine Umbruchphase. Sie waren geprägt von der Bürgerrechtsbewegung, die sich dem Rassismus im Land entgegenstellte und den Schwarzen einen gleichberechtigten Platz in der amerikanischen Gesellschaft verschaffen wollte. In der zweiten Hälfte gingen die Menschen gegen den Vietnamkrieg auf die Straße. Bürgerrechts- und Friedensbewegung wollten nicht nur einen Politikwechsel, sondern einen grundlegenden Wandel in der amerikanischen Gesellschaft.
Als 1968 mit dem Civil Rights Act die Rassentrennung aufgehoben wurde, war dies ein Sieg für die Bürgerrechtsbewegung, doch die Situation der Indianer blieb davon unberührt. Anders als die Schwarzen, wollten sie nicht Teil des American Dream werden. Sie hatten schmerzlich erfahren, was Assimilierung bedeutet, und wollten genau im Gegenteil die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung ihrer Völker. Die ersten Proteste der Indianer in den 60er Jahren richteten sich daher gegen die Vertragsbrüche der US-amerikanischen Seite, z.B. mit Widerstandsaktionen wie den “Fish-Ins”, mit denen die Indianer ihre vertraglich zugesicherten Fischereirechte im Nordwesten der USA forderten. Im Zentrum ihrer Aktionen standen Land- und Vertragsrechte.
Nach der Termination Policy Anfang der 1950er Jahre, mit der sich die Bundesregierung ihren Verpflichtungen gegenüber den indianischen Nationen entziehen wollte und die zu weiterem Landverlust führte, setzte Washington mit dem Indian Relocation Act von 1956, der Umsiedlung von den Reservaten in die Städte, die Terminierungspolitik auf andere Weise fort. Statt den Indianern die Überlebensbasis in den Reservaten zu entziehen, wollte man ihnen nun die indianische Lebensweise gleich ganz austreiben. Assimilierung war das Ziel und die Vertreibung aus den Reservaten in die Städte das Mittel dazu. Lebten 1940 nur etwa 10% der Indianer in den Städten, ist es heute die klare Mehrheit.
Allein in den ersten fünf Jahren des Umsiedlungsprogramms verließen rund 50.000 Indianer die Reservate und siedelten sich in Großstädten wie San Francisco oder Minneapolis an, wohin man sie mit der Aussicht auf Ausbildung oder Jobs gelockt hatte. Doch wie immer blieben auch dies leere Versprechungen, da die zuständigen Behörden in keiner Weise auf die Anforderungen vorbereitet waren, so dass für die meisten der neuen Stadtindianer nur schlecht bezahlte Handlangerjobs blieben – oder das Militär. Viele der AIM-Aktivisten hatten in Vietnam gekämpft, wo sie beobachten konnten, wie die Unterdrückungsstrategien von der Seite der Mächtigen eingesetzt wurden. “In Vietnam hat uns keiner dreckige Rothäute genannt”, erzählte später Tom LaBlanc, Vietnam-Kämpfer, AIM-Aktivist und Dichter. Doch die heimkehrenden indianischen Vietnamkämpfer stießen nur auf Ablehnung und Rassismus.
Auf die meisten Indianer wartete in den Städten nur neues Elend. Waren viele bereits durch Internatsschulen oder Zwangsadoption ihrer eigenen Kultur entfremdet, begegneten sie in den urbanen Zentren erneut Ausgrenzung und Rassismus. Die Folge waren Alkoholismus und Drogen oder Assimilierung. Der Ausweg konnte nur in einer Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen bestehen.
Die Suche von Identität, der Rassismus in den Städten und ein verändertes, politisiertes Bewusstsein führten schließlich zur Gründung von Selbsthilfeorganisationen. Die bekannteste unter ihnen ist das American Indian Movement, das Dennis Banks und Clyde Bellecourt 1968 in Minneapolis gründeten. Ursprünglich wollten sie sich damit vor allem der Polizeigewalt und dem Rassismus entgegenstellen. Immer wieder kam es damals zu gezielten gewalttätigen Polizeiübergriffen auf Indianer, so dass AIM Patrouillen organisierte, um die Übergriffe zu verhindern. Rasch aber wurde klar, dass man sich auch anderer sozialer und politischer Probleme annehmen musste, neue Gruppen entstanden in anderen Städten wie San Francisco oder Denver.
AIM gründete Bürgerrechtszentren, Rechtshilfegruppen und Survival Schools. 1970 fand die erste National AIM Conference statt, an der bereits 18 AIM-Gruppen aus dem ganzen Land teilnahmen — zum Zeitpunkt der Besetzung von Wounded Knee 1973 sollte es rund 350 geben. Die Aktivisten orientierten sich an den Aktionen der Bürgerrechtsbewegung, vor allem der Black Power. Bürgerrechtsbewegung und Vietnamkrieg hatten die Indianer außerdem gelehrt, dass Protest und Widerstand nur dann eine Chance haben, wenn auch die Medien darüber berichten. Wie bereits die Black Panther Party begann man nun mit Demonstrationen, Mahnwachen und spektakulären Aktionen wie der Besetzung der einstigen Gefängnisinsel Alcatraz (1969-1971), der Besetzung von Mount Rushmore (1970) oder dem Trail of Broken Treaties (1972), der mit der Besetzung des BIA-Gebäudes in Washington endete — Aktionen, die Schlagzeilen machten.
Anders als die Black Power-Aktivisten suchten die Indianer jedoch nicht die Integration in die amerikanische Mehrheitsgesellschaft und verstanden sich daher nicht nur als politische, sondern vor allem auch als spirituelle Bewegung, wie ein AIM-Führer erläuterte: “Als wir mit AIM anfingen, merkten wir schnell, dass es nicht damit getan wäre, vor Gericht zu ziehen oder Demonstrationen abzuhalten. Wir wollten unseren Leuten helfen, doch das war einfach nicht genug. Wir wollten einen echten Wandel, der grundsätzliche Veränderungen hervorrufen sollte. Irgendetwas fehlte uns. Dann hörten wir von Leonard Crow Dog und fuhren zu ihm nach Rosebud. Wir hofften, er könnte uns eine Richtung geben, die uns bislang fehlte. Leonard sagte uns, wenn wir eine wirkliche indianische Organisation werden wollten, bräuchten wir die Zusammenarbeit mit den spirituellen Führern und den traditionellen Chiefs. Das gab uns genau die Richtung, die wir brauchten, eine spirituelle Wiedergeburt.”
Der Weg war allerdings mühsam und mit Enttäuschungen verbunden. „Wir waren auch erschöpft und frustriert, dass unsere ganzen Bemühungen, Rassismus und Entwürdigung zu bekämpfen, so wenig Erfolg hatten.“ Die Situation in Pine Ridge veränderte die Lage. Als sich die Oglala an AIM um Hilfe wandten, sahen sie die Möglichkeit, endlich etwas Konkretes zu tun und zu helfen.
Brennpunkt South Dakota
Rassistische Übergriffe und Gewalt gegen Indianer waren in South Dakota an der Tagesordnung, doch die weißen Täter wurden fast nie verurteilt. Im Februar 1972 Jahr zwangen betrunkene Weiße den 52-jährigen Raymond Yellow Thunder in Gordon, Nebraska, nahe der Pine Ridge Indian Reservation dazu, nackt auf einem Tisch zu tanzen, dann kastrierten und ermordeten sie ihn. Die Bemühungen der Familie, Raymonds Täter vor Gericht zu stellen, stießen nur auf taube Ohren – bei der Stammesregierung, beim BIA und auch bei Kongressabgeordneten. Also wandten sie sich an AIM, um mit deren Hilfe wenigstens eine Untersuchung und einen Prozess durchzusetzen.
Tatsächlich bedeutete dies eine Wende, denn diesmal führte AIM eine Wagenkolonne mit 200 Autos nach Gordon und verlangte, dass die Täter wegen Mordes angeklagt werden. Das Gericht beugte sich zunächst dem Druck der Indianer, doch die Täter kamen nach nur einem Monat Haft wieder frei.
Am 21. Januar 1973 wurde Wesley Bad Heart Bull in South Dakota vom Tankwart Darald Schmitz mit 49 Messerstichen in den Rücken ermordet. Schmitz wurde zwar verhaftet, aber gegen eine Kaution von 2.500 Dollar kurz darauf wieder frei gelassen. Als Sarah Bad Heart Bull, die mit Wesley bereits den zweiten Sohn durch die Hand eines Weißen verloren hatte, am 6. Februar am Prozess gegen den Mörder ihres Sohnes teilnehmen wollte, schlugen die Sicherheitskräfte sie auf den Stufen zum Gerichtsgebäude in Custer zusammen und verhafteten sie. Während der Mörder ihres Sohnes nur zwei Monate auf Bewährung erhielt, wurde Sarah Bad Heart Bull wegen Landfriedensbruch zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Aufgrund öffentlichen Protests kam sie zwar im November 1974 wieder frei, aber mit der Auflage, jeden Kontakt mit AIM zu unterlassen.
Sarah Bad Heart Bull war nicht alleine nach Custer gekommen, sondern mit rund 200 (unbewaffneten) indianischen Unterstützern, darunter auch AIM. Die Gewalt der Polizei und die Verhaftung von Sarah Bad Heart Bull brachten das Fass zum Überlaufen. Enttäuscht und wütend steckten sie schließlich das Gebäude der Handelskammer in Brand und legten Feuer auf den Stufen des Gerichtsgebäudes. Die Sicherheitskräfte des FBI waren jedoch vorbereitet, hatten Scharfschützen auf den Dächern postiert und gingen mit Tränengas und Gummiknüppeln brutal gegen die Demonstranten vor. Zahlreiche Aktivisten, u.a. Dennis Banks, wurden verhaftet. Den Medien war die Eskalation nicht entgangen und man fragte sich, was da plötzlich in South Dakota vor sich ginge.
“Wir müssen jetzt handeln”
Trotz des brutalen Endes in Custer wirkten die AIM-Aktionen elektrisierend auf die Indianer, die sahen, dass es Leute gab, die sich nicht wegduckten, sondern Widerstand leisteten. Auch Rosaline Jumping Bull, die Nichte von Raymond Yellow Thunder, zeigte sich von dem neuen Widerstand beeindruckt, denn “bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gewusst, dass wir uns auch zur Wehr setzen konnten, dass wir für unsere Rechte kämpfen konnten. Meine Eltern und Großeltern haben mir von klein auf eingetrichtert, ich solle gehorchen, sonst würde ich bestraft. Doch diesmal wollte ich nicht mehr gehorchen.”
Die Behörden waren alarmiert und fürchteten die Kontrolle über die Situation zu verlieren, doch mit der weiteren Aufrüstung vor Ort heizten sie die Eskalation nur an. “Die Regierung hatte Wilson Unterstützung geschickt, eine Sondereinsatztruppe beim US Marshall Service. Das waren keine normalen Sicherheitskräfte, sondern Leute in Kampfausrüstung, die M16 herumtrugen”, so Carter Camp, einer der Verhandlungsführer von Wounded Knee. “„Sie fuhren in Jeeps und Panzerwagen herum, hatten Helikopter und tauchten immer auf, sobald sich einige Indianer versammelten .. sei es zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung. Sie erklärten uns, jede Ansammlung von mehr als vier Lakota sei verboten. Andernfalls müssten sie sofort einschreiten und die Versammlung auflösen. Aber irgendwann war der Punkt erreicht, an dem unsere Leute die ständige Einschüchterung und Unterdrückung nicht mehr ertragen konnten.”
Unmittelbar nachdem drei Stammesratsmitglieder im Feb 1973 ein Amtsenthebungsverfahren gegen Wilson wegen Amtsmissbrauchs und Veruntreuung von Stammesgeldern eingeleitet hatten, holte dieser das FBI. Am 11. Februar bezogen 75 US-Marshals Posten im BIA-Gebäude von Pine Ridge und nur wenige Tage später bildeten FBI, US-Marshals, BIA- und Staatspolizei sowie eine 110 Mann starke Elitetruppe der Special Operations Group eine gemeinsame Kampftruppe, um Wilson zu stützen. Die Anhörungen zum Amtenthebungsverfahren waren für den 22./23. Februar angesetzt, doch Wilson übernahm selbst den Vorsitz des Anhörungsausschusses und beendete das Verfahren — ein Richter n eigener Sache.
Den Oglala, die inzwischen die Oglala Sioux Civil Rights Organization (OSCRO) gegründet hatten, war nun klar, dass weder die Regierung noch die Gesetze ihre Rechte schützen würden und sie selbst handeln mussten. Über 300 Oglala trafen sich zu Beratungen in der Calico Community Hall, und es waren vor allem die Frauen, welche die Diskussionen in Calico bestimmten — Ellen Moves Camp, Gladys Bissonette. Lou Bean, Madonna Thunderhawk und Hildegard Catches. Sie forderten die Männer auf, endlich zu handeln und sich dem Terrorregime von Wilson in den Weg zu stellen. Die Versammlung war sich einig, AIM zu Hilfe zu rufen. “Wir können nicht warten, wir müssen jetzt sofort und heute handeln”, erklärte Gladys Bissonette. Zunächst hatte man an eine Demonstration zum BIA-Gebäude oder dergleichen gedacht, doch dies wäre reiner Selbstmord gewesen, denn das Gebäude glich inzwischen einer Festung. Das FBI hatte Scharfschützen und Maschinengewehre auf dem Dach positioniert und wartete nur darauf, loszuschlagen.
Eine der Frauen unterbreitete daher den Vorschlag, nicht nach Pine Ridge zu gehen und dem FBI direkt in die Arme zu laufen, sondern nach Wounded Knee zu ziehen und dort Widerstand leisten – unter dem Schutz der Geister der Ahnen. AIM — so wird immer wieder von allen Seiten betont — mischte sich in die Diskussionen und Entscheidungen der Lakota nicht ein. Frank Fools Crow, der alte weise Mann der Oglala, entschied schließlich, man werde im Protestzug nach Wounded Knee ziehen.
Besetzung von Wounded Knee
FBI, US-Marshals und BIA-Polizisten schauten nur erstaunt zu, als am Abend des 27. Februar 1973 eine Wagenkolonne von 54 Indian Cars — klapprigen und rostigen Vehikeln — mit rund 200 Indianern an ihnen vorbeizog und Richtung Wounded Knee fuhr, einer kleinen Siedlung, die aus der Trading Post der Gildersleeves, einem kleinen Museum, ein paar Häusern und drei Kirchen bestand. Die Indianer besetzten die Trading Post und die umliegenden Gebäude und nahmen elf „Geiseln“ — darunter die Gildersleeves. Trading Post und Museum wurden “geplündert”, doch die AIM-Führung bestand auf Disziplin — nicht ohne Grund. Die Gildersleeves hatten das Land, auf dem die Vorfahren der Lakota massakriert wurden, in Besitz genommen und gute Geschäfte gemacht. Seit vielen Jahren hatten sie die Indianer ausgebeutet, betrogen und deren Geld veruntreut. Im Museum hatte man indianische Artefakte und Überreste der Opfer des Massakers ausgestellt, die damals in einem Massengrab verscharrt wurden. Die Wut der Indianer angesichts dieser Diskriminierung war verständlich, doch es ging nun nicht um persönliche Rache, sondern um grundlegende Forderungen.
Bereits am Abend der Besetzung — der Begriff ist im Grunde irreführend, denn es handelt sich ja um traditionelles Land der Lakota, d.h. man kann nicht “besetzen”, was einem rechtmäßig gehört — hatte der Oglala-Indianer und AIM-Kommunikationsdirektor Aaron DeSersa die Presse verständigt, um einen plötzlichen Übergriff der Einsatzkräfte zu verhindern. Schon kurz nach der Ankunft der Indianer in Wounded Knee errichteten rund 90 FBI-Leute und Marshalls einen Blockadering um das Gelände, ließen niemanden mehr nach Wounded Knee und verhafteten jeden, der den Ort verlassen wollte. Die Journalisten wurden auf Schleichwegen ins Lager geschmuggelt, wo AIM-Sprecher Carter Camp die drei Hauptforderungen der Besetzer verkündete:
- Bildung eines Senatsausschusses unter Leitung von Senator Edward Kennedy zur Überprüfung der Unterlagen des Innenministeriums in Bezug auf die Landrechte der Lakota;
- Senator Fulbright solle alle 371 einseitig von den USA gebrochenen Verträge mit den Indianern untersuchen;
- Der Stammesrat der Pine Ridge Indian Reservation sollte aufgelöst und durch eine selbstbestimmte Regierung der Oglala-Lakota ersetzt werden.
Straßensperren und Einsatzkräfte
Zu diesem Zeitpunkt ging jeder davon aus, man werde vielleicht ein oder zwei Tage in Wounded Knee bleiben, und keiner der Besetzer konnte ahnen, dass sie schließlich über zwei Monate bleiben würden. Die Besetzung von Wounded Knee war keine strategische Operation, aber es war schnell klar, wie wichtig es war, „dem amerikanischen Volk und den Völkern in aller Welt verständlich zu machen, warum wir diesen Platz besetzt hatten und warum er so heilig für uns war“ (Gladys Bissonette), denn auf dem Spiel stand der “Indian way of life”.
Am nächsten Tag begann man mit der Errichtung von Straßensperren, um einen raschen Vorstoß auf die besetzte Siedlung zu verhindern. Auch die Behörden richteten Sperren ein. Weitere Sicherheitskräfte, FBI-Agenten, US-Marshals, bewaffnete Rancher und die Schlägertrupps des Stammesrats wurden um die Ortschaft zusammengezogen. Erstmals nach dem Ende des Bürgerkriegs entsandte das Pentagon unter Einsatzleitung von General Alexander Haig mit der Aktion “Garden Plot” Truppen gegen eigene Bürger — getarnt in Zivil. Nach und nach wurden diese Maßnahmen erheblich verstärkt und auf Regierungsseite kamen in den folgenden Wochen Transportpanzer Hubschrauber, Phantombomber und Spezialeinheiten zur Aufstandsbekämpfung zum Einsatz. Im fernen Fort Bragg in North Carolina standen die Fallschirmjägereinheiten der 82. Luftlandedivision auf Abruf – allerdings weigerte sich deren Kommandeur, die geforderten 2.000 Soldaten gegen die Indianer aufmarschieren zu lassen und so das Geschehen von 1890 zu wiederholen. US-Präsident Nixon wäre jedoch notfalls zu einem “massiven Schlag” bereit gewesen.
Die Besetzer hatten mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Eine ernsthafte Verteidigung von Wounded Knee kam nicht infrage. Dazu war die militärische Ausrüstung gar nicht gegeben und die Übermacht des Belagerungsrings viel zu groß. Die Bewaffnung der Indianer bestand vor allem aus Kleinkalibergewehren, wenigen Jagdgewehren und einer einzigen Kalaschnikow, die dann aber prompt als Beweis für die Kommunistenthese herhalten musste — die berühmte AK47. Aufgrund der mangelnden Waffen und Munition begannen die Indianer mit dem Bau von „Bunkern“ und Schützengräben, um sich gegen die Überlegenheit der Regierungsseite zu verteidigen.
Zermürbungstaktik der Regierung
Der Kriegsschauplatz beschränkte sich nicht auf den kleinen Flecken von Wounded Knee, denn sofort griffen die Medien das Ereignis auf und berichteten in ihren Schlagzeilen vom Widerstand der Indianer. Die Regierung versuchte daher mit allen Mitteln, die Medien fernzuhalten und deren Information auf die täglichen Pressekonferenzen im BIA-Gebäude in Pine Ridge zu beschränken. Zugleich verbreitete man gezielte Propaganda: Der Aufstand gehe von AIM aus und nicht von den an sich “friedliebenden” Oglala-Lakota. AIM sei ein von Moskau finanziertes Unternehmen, die Agitatoren seien also Kommunisten und nicht wirklich Indianer, lautete die Propaganda. AIM habe die weißen Bewohner von Wounded Knee als Geiseln genommen. Die AIM-Krieger seien mit illegalen Kriegswaffen ausgestattet.
Die Indianer präsentierten den interessierten Medien jedoch die wahren Hintergründe des Konflikts — Diskriminierung, katastrophale Lebensbedingungen in den Reservaten, Landraub, Ausbeutung der Ressourcen, Vertragsbrüche und das korrupte System der Stammesräte.
Nachdem sich die Medienstrategien der Indianer erfolgreich zeigten, ging die Regierung zur nächsten Phase über. Nach der versuchten Abschottung des Konflikts von der Öffentlichkeit folgte die massive Aufrüstung der Einsatzkräfte, während zugleich ein zermürbender Wechsel von Verhandlungen, einerseits und Schikanen wie der Unterbrechung der Wasserversorgung, zahlreichen Verhaftungen, Drohungen der Staatsanwaltschaften und der Stammesregierung und plötzlich aufflammenden Feuergefechten andererseits einsetzte.
Nach heftigen Schusswechseln zwischen Indianern und Regierungsseite, beschäftigte die Politik vor allem das Schicksal der “weißen Geiseln” in indianischer Hand. Bereits am 2. März machten sich die demokratischen Senatoren Jim Abourezk und George McGovern auf den Weg nach Wounded Knee, und waren überrascht, dass sich die Gildersleeves keineswegs als Geiseln verstanden, sondern erklärten, sie seien freiwillig geblieben. Die über 70jährige Agnes Gildersleeve erklärte gegenüber Senatoren und Presse in Wounded Knee, “Selbstverständlich sind wir keine Geiseln. Die Indianer haben viel Leid erlitten und sind mit berechtigten Anliegen hier. Es ist doch alles Ihre Schuld. Hätten Sie etwas gegen die Probleme unternommen, wären die Indianer heute nicht hier. Wir sind hier, nicht nur um unser Eigentum zu schützen, sondern auch weil wir die Indianer retten wollen, denn wir wissen, dass Sie kurz davor sind, die Indianer zu massakrieren”. Auf Nachfrage erklärte sie nochmals ausdrücklich, dass sie nicht vorhabe, Wounded Knee zu verlassen.
Verhandlungen mit der Regierung
“Das Medienaufgebot in den Tagen nach dem Besuch der Senatoren wuchs immens”, so Russell Means in seinen Erinnerungen Where White Men Fear To Tread, “und da man allgemein erwartete, wir würden uns nun bald ergeben, ließ das FBI die Medien sogar die Absperrungen passieren. ABC, damals das führende Nachrichtennetzwerk, verlagerte sogar fast sein gesamtes Chicagoer Büro nach Pine Ridge.” Nachdem sich die Lüge von den armen weißen Geiseln, die sich wie in einem schlechten Western in der Hand der blutrünstigen Indianer befänden, nicht aufrechterhalten ließ und die Medien sich immer stärker für die Sache der Indianer interessierten, entsandte das Justizministerium Ralph Erickson zu ersten Verhandlungen mit der Oglala-Führung und AIM nach Wounded Knee. Man traf sich in einem Tipi, das die Indianer eigens zu diesem Zweck errichtet hatten. Für die Indianer war klar, dass sie hier und jetzt in Wounded Knee Geschichte schreiben würden, und so erklärte Russell Means zu Beginn der Verhandlungen: “Die ist die letzte Chance für die Indianer, um unsere Vertragsrechte nicht nur in der Öffentlichkeit in den USA und weltweit einzufordern, sondern vor Gericht zu bringen und in ernsthaften Verhandlungen mit der Regierung durchzusetzen. Das Weiße Haus muss uns völkerrechtlich anerkennen. Andernfalls kann dies nur mit einem Massaker enden. Wenn unsere Vertragsrechte nicht gleichberechtigt mit der amerikanischen Verfassung – so wie sie es nach dem Gesetz sind — anerkannt werden, dann können sie mich genauso gut töten, denn dann habe ich keinen Grund mehr zu leben.”
AIM und die Oglala forderten die Regierung auf, Wilson abzusetzen, aber die Regierung lehnte ausgerechnet mit dem Verweis auf die Selbstverwaltung des Stammes ab. Die Verhandlungsführer hatten einfach nicht verstanden, dass es den Indianern nach Jahrhunderten der Lügen und Vertragsbrüche nicht genügen konnte, wenn die Regierung nicht mehr anzubieten hatte als ein vages Versprechen, man werde die Situation überprüfen — im Gegenzug für die sofortige Niederlegung der Waffen auf indianischer Seite. Während Russell Means erklärte, das Angebot klinge wie das, welches man Big Foot 1890 unterbreitet habe und man verhandle nicht, wenn gleichzeitig der Lauf der Pistole auf einen gerichtet sei, nahm Dennis Banks das Papier und verbrannte es kurzerhand.
Täglich kam es zu Feuergefechten, während gleichzeitig die Medienaufmerksamkeit – seit Beginn beherrschte der Konflikt die Schlagzeilen – und der öffentliche Druck auf die Regierung wuchsen. Am 10. März hob die Regierung die Straßensperren auf und ermöglichte so die Versorgung der Indianer mit Nahrungsmitteln und Medikamenten. Allerdings errichteten immer wieder Wilson Schlägertruppe und weiße Bürgerwehren eigene Straßensperren, um das Vordringen der „Kommunisten“ zu stoppen.
Die Versorgungslage der Besetzer war von Anfang an äußerst kritisch gewesen, obwohl es Unterstützern immer wieder gelungen war, Lebensmittel einzuschmuggeln oder gar aus der Luft abzuwerfen. Als die Besetzung begann, hatte man nicht damit gerechnet, wochenlang hier zu bleiben und Nahrungsmittel, Medikamente als auch Munition waren knapp.
Neben der Aufhebung der Straßensperren hatte die Regierung erklärt, es stünde jedem der Besetzer frei, Wounded Knee zu verlassen. Rund 200 Indianer, die davon ausgegangen waren, das Ende der Besetzung stehe nun unmittelbar bevor, verließen daraufhin das Widerstandscamp, doch rund 150 neue Unterstützer stießen zu den Besetzern hinzu. Entgegen der vorherigen Ankündigung der Regierung wurden diejenigen, welche Wounded Knee verließen, prompt verhaftet.
Unabhängigkeitserklärung
Doch schlimmer als die Verhaftungen war das nachlassende Medieninteresse. Wenn die Aktivisten frei waren, Wounded Knee zu verlassen, war das keine Story mehr. „Wir hatten die Regierung noch immer nicht zu ernsthaften Verhandlungen über unsere Verträge bewegen können. Ohne eine Konfrontation jedoch, auf die sich die öffentliche Aufmerksamkeit richten konnte, könnte die Regierung uns einfach ignorieren. Der Krieg wäre vorbei und wir hätten verloren“, erinnerte sich Russell Means in seiner Autobiographie. Die Besetzer brauchten daher ein neues Signal an die Öffentlichkeit: die Unabhängigkeit.
Am 11. März verkündeten Frank Fools Crow und die anderen traditionellen Chiefs die Independent Oglala Nation. Man schuf eine provisorische Regierung und gab – dank der vorhandenen Druckerpresse — eigene Pässe aus, die auf der einen Seite eine Kopie des Vertrages von Fort Laramie aufwiesen, auf der anderen die persönlichen Daten — alles in Lakota. 182 Oglala, 160 Indianer anderer Stämme und sieben Weiße wurden nun zu Staatsbürgern der Independent Oglala Nation, die sofort die Regierung zu Verhandlungen über den Vertrag von Fort Laramie aufforderte. Die Reaktion der Regierung bestand darin, die Belagerung erneut zu verschärfen, Transport und Versorgung abzuschneiden und die Telefonleitungen zu unterbrechen.
Die Unabhängigkeitserklärung war für den nicht mehr legitimierten Stammesratsvorsitzenden Dick Wilson natürlich eine Provokation. Er ließ eine Resolution verabschieden, in der alle Nicht-Lakota der Reservation verwiesen wurden, und schwadronierte erneut von der kommunistischen Gefahr.
Zuspitzung der Ereignisse
In den nächsten Tagen kam es immer wieder zu erfolglosen Verhandlungsrunden. Russell Means und Leonard Crow Dog flogen sogar nach Washington, doch die Verhandlungen wurden von der Regierung einfach abgesagt, und Russell Means durfte nicht mehr nach Wounded Knee zurück. FBI, Marshalls und BIA zogen den Kreis um die Besetzer immer enger und weitere Panzerwagen rückten an. Unterstützer, die nach Wounded Knee wollten, wurden abgefangen und die Versorgungslage verschlechterte sich dramatisch.
Ein Hoffnungszeichen für die Indianer in Wounded Knee waren die Geburt des Sohnes von Mary Crow Dog und die Hochzeit von Anna Mae Pictou mit Noogeshik Aquash, doch die freudigen Momente wurden schnell getrübt. Als am 17. April drei kleine Privatflugzeuge Versorgungspakete über Wounded Knee abwarfen, eröffneten die Feds das Feuer. Die Kugeln durchdrangen die Wand der Kirche und trafen Frank Clearwater, der eine Woche später an den Kopfverletzungen in Rapid City starb. Immer wieder kam es in der Folge zu heftigen Schusswechseln, bei denen schließlich auch Buddy Lamont am 27. April getötet wurde.
Der Tod von Frank Clearwater und Buddy Lamont bedeutete die Wende. Während AIM die Besetzung fortführen wollte, stimmten die Oglala Chiefs für deren Ende. Da sich AIM, wie u.a. Dennis Banks und Clyde Bellecourt immer wieder betonten, nur als Unterstützer der Lakota verstanden, zogen sie sich aus den Beratungen zurück und akzeptierten deren Entscheidungshoheit.
Schließlich einigten sich die Verhandlungsführer mit der Regierung auf ein Ende der Belagerung und anschließende Verhandlungen Mitte Mai in Rapid City. Am 8. Mai legten 146 Besetzer die Waffen nieder und ergaben sich. Sofort holten die US-Marshals die AIM-Flagge ein und hissten das amerikanische Sternenbanner.
Leonard Crow Dog und Carter Camp ergaben sich bereits einen Tag zuvor und wurden ins Gefängnis von Rapid City gebracht, wo Russell Means bereits ebenfalls inhaftiert war. Dennis Banks wurde in der Nacht auf den 8. Mai von den AIM-Aktivisten in Sorge um sein Leben zur Flucht gedrängt und konnte sich der Verhaftung entziehen. Die Verhandlungen zwischen den Oglala Chiefs und der Regierung wurden von Washington abgesagt. Sämtliche Zusagen wurden gebrochen.
Die Indianer mögen in Wounded Knee zwar eine “Niederlage” im Kräftemessen erlitten haben, doch sie erlebten die Wiedergeburt der indianischen Identität – oder wie es Dennis Banks formulierte: “Wounded Knee war das größte Ereignis in der Geschichte der Indianer im 20. Jahrhundert. Es ist unsere Glanzstunde und ich bin stolz, dabei gewesen zu sein.”
Das Erbe von Wounded Knee: Erneuerung und Selbstbestimmung
Reicht das Erbe von Wounded Knee über die Erinnerungen und Anekdoten derjenigen hinaus, die damals dabei waren? Die Anishinabe-Aktivistin Winona LaDuke bejaht dies entschieden: “Die Besetzung von Wounded Knee war genauso bedeutend wie die Weigerung von Rosa Parks, ihren Platz in einem Bus in Alabama aufzugeben. Rosa Parks läutete damit die schwarze Bürgerrechtsbewegung ein. Wounded Knee ist für uns das Symbol des indianischen Widerstands.”
Wounded Knee brachte Indianer aus dem ganzen Land zusammen und vereinte sie im Kampf um die indigenen Rechte. „Wir hatten die Elders, spirituellen Führer, Frauen und Kinder bei uns in Wounded Knee. Wir waren eine starke Gemeinschaft… Und alle die Indianer der verschiedenen Stämme fanden zu einer Einheit zusammen, die man sonst im indianischen Land kaum findet“, erinnerte sich später Carter Camp, einer der Sprecher von Wounded Knee.
Die Indianer wollten dem Zwang der Assimilierung, dem sie Jahrzehnte ausgesetzt waren, die Rückbesinnung auf die eigene Identität entgegenstellen. Dabei ging es nun nicht mehr allein gegen die weiße Gesellschaft und deren Politik, sondern für eine indianische Zukunft. “Wir haben unseren Stolz, unser Selbstbewusstsein als Indianer wiedererlangt”, so Aktivist, Musiker und Schauspieler John Trudell. “Das war für uns als Volk von entscheidender Bedeutung, denn es ging nie darum, nur Gesetze oder Wahlen zu verändern oder gegen gebrochene Verträge zu protestieren, sondern es ging um den Kern unserer Existenz und Identität.”
Ausgerechnet die schwächste Gruppe der amerikanischen Gesellschaft fand den Mut gegen ihre Situation aufzubegehren und für sich eine Zukunft einzufordern. “Wounded Knee, die Entstehung von AIM und die Kämpfe in den späten 60er und 70er Jahren”, so Carter Camp, veränderten das Selbstverständnis der Indianer völlig. Sie begannen nun plötzlich an die Zukunft zu denken, nicht an die Ausrottung der Vergangenheit, sie sahen sich nicht länger als ‘aussterbende Rasse’… Sie lernten, stolz auf ihre Herkunft und ihre Identität zu sein. Das hatte es in Amerika über viele Generationen nicht mehr gegeben.”
Die Aktivisten von damals sind sich in der Signalwirkung von Wounded Knee einig, und so zog auch Dennis Banks eine positive Bilanz: “Wir waren die Verkünder einer neuen Botschaft. Wounded Knee bedeutete nicht nur eine Bewusstseinsveränderung für die Indianer, sondern auch für das weiße Amerika. Wir veränderten das Gefühl der Abhängigkeit vom BIA und der Regierung, befreiten uns vom Dasein der Almosenempfänger und sagten endlich, wir selbst nehmen unser Leben in die Hand. Wir veränderten die Lebensweise unserer Leute. Wir wiederbelebten unsere Überzeugungen und Lebensweisen und verbanden sie mit den Erfordernissen des modernen Lebens, mit dem, was wir brauchen, um zu überleben. Wir schufen eine neue Kultur und überwanden all die Klischees. Aus AIM erwuchsen Dichter, Schriftsteller, Schauspieler und Filmemacher. Wir brauchten keine Weißen mehr, die unsere Kultur übersetzten. Wir schufen alternative Schulen, unterrichteten die Geschichte aus unserer Perspektive. Wir haben nicht alle Ziele erreicht, aber wir haben den nächsten Generationen den Weg geebnet.”
Doch die nachfolgende Generation hat einen differenzierten Blick auf die Ereignisse und deren Wirkung. Eine der herausragenden Errungenschaften sieht Clyde Bellecourt darin, dass heute Indianer eine gute Ausbildung erhalten können und die eigene Geschichte nicht mehr allein aus den Lehrbüchern der Weißen erfahren müssen.
Von Wounded Knee bis DAPL & Co.
Für viele der jungen Indianer gehört Wounded Knee längst nicht nur der Vergangenheit an. Sie kennen die Geschichten aus den Erzählungen der Eltern oder Großeltern, doch die alltäglichen Probleme sind ebenso dringend: Diabetes, Arbeitslosigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder hohe Selbstmordraten. Dennoch hat sich mit den Ereignissen vor 50 Jahren ein neues Selbstbewusstsein und ein neuer Widerstand entwickelt. Indigene sind heute präsenter, denn je in den sozialen Medien, sie verknüpfen sich mit Menschenrechts- und Umweltorganisationen, fordern auf internationalen Konferenzen und UN-Gremien ihre Rechte ein. Heute gilt ihr Widerstand auch den Projekten, welche uns alle angehen — gegen die Ausbeutung der natürlichen Lebensgrundlagen, gegen die Förderung fossiler Energie und Pipeline-Projekten wie DAPL oder der inzwischen aufgegebenen Keystone XL. Aber sie brauchen auch unsere Unterstützung.
Das Erbe von Wounded Knee liegt nun bei der jungen Generation, welche die spirituelle, kulturelle, ökonomische und ökologische Erneuerung, die vor 50 Jahren ihren Anfang genommen hat, umsetzen müssen. Der Schlüssel hierzu sind Landrechte und Selbstbestimmung.
Monika Seiller