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Hans-Ludwig Blohm: Die Stimme der Ureinwohner

Stimme der Ureinwohner (Cover: Verlag M. u. H. von der Linden) Der Kanadische Norden und Alaska - Farbfotografien von Hans-Ludwig Blohm
von Robert Stark
(veröffentlicht 4/2002)

Dieses neu erschienene Buch wird jeden begeistern, der sich ernsthaft für arktische Jägerkulturen oder für die Kulturen fremder Völker allgemein interessiert. Es ist kein Hochglanzbildband mit gefälligen Photos, wie sie der Buchmarkt zu Tausenden kennt. Natürlich gefallen auch die Bilder dieses Bandes, aber vor allem aufgrund Ihrer „ehrlichen Perspektive“, der es in hervorragender Weise gelingt, Lebensweise und -gefühl der Ureinwohner des amerikanischen Nordens einzufangen.

Hier wird kein romantischer Aufguss geboten, sondern die aktuelle Wirklichkeit der Lebenswelt dieser Völker in großartigen Aufnahmen dokumentiert. Dass bereits 14 Aufnahmen des Autors auserwählt worden sind, offizielle kanadische Briefmarken zu schmücken, spricht für sich. Aber eigentlich ist nicht er „der“ Autor des Buches. Seine Bilder versteht er als „Photoessay“, nur ein Essay unter vielen anderen in diesem schönen Buch. Wie es der Titel verkündet, kommen die Ureinwohner selber zu Wort. Da hilft Hans Ludwig Blohm einem vorbildlichen Prinzip zur Geltung, das von der Bewegung „Action Anthropology“ propagiert worden ist. „We talk (gemeint sind die Ureinwohner), you listen“.

„Bist du fertig, weißer Mann?, Ich spreche“, so lautet die Überschrift seines ersten Beitrags. Er berichtet davon, wie er zu Beginn seines Engagements im Norden Kanadas ordentlich „ins Fettnäpfchen getreten ist“ und eine Lektion über Umgangsformen im Dialog zwischen den Kulturen erhalten hat. Die Texte der Ureinwohner in diesem Buch sind ebenso unmittelbar und ehrlich verfasst. Es ist sicher nicht übertrieben, wenn man sagt: In diesem Buch steckt „Herzblut“.

John Amagoalik ist einer der Inuit, die in diesem Buch zu Wort kommen. Sein jahrelanges Engagement als Politiker und Autor hatte eine führende Rolle bei den Verhandlungen zur Schaffung des autonomen Inuit-Staates Nunavut zur Folge. In wenigen, prägnanten Sätzen bringt er die Unterschiede zwischen indigener und europäischer Auffassung des Begriffes „Land“ zum Ausdruck.

Auch für Alootook Ipellie gilt, dass er ein engagierter Politiker und Autor ist. Sein Beitrag über das „Volk des guten Landes“ vermittelt erschütternde Einsichten in die seelischen Wunden, die den Angehörigen der Inuit-Gemeinden bei der traumatisch erfolgten Überrumpelung durch die dominante, weiße Kultur zugefügt worden sind. Obwohl er mit den dramatischen Folgen dieser Traumatisierung wie zerrüttete Sozialgefüge, Drogenmißbrauch und Gewaltausbrüche verzweifelter Einzelpersonen bestens vertraut ist, zeichnet ihn ein unerschütterlicher Glaube an die Lebenskraft seines Volkes und die Fähigkeit zur Bewältigung dieser Situtation aus eigener Kraft aus. In einem anderen Beitrag zeigt er selbst einen Weg zum kreativen Umgang mit diesen Lebenserfahrungen: Er wurde zum Lyriker. Für deutsche Leser besonders beeindruckend: Er zitiert Bismarck zu Beginn seines Gedichts (das Buch wurde zunächst für ein englischsprachiges Publikum geschrieben!): „Nichts sollte man einem besiegten Volk lassen als seine Augen zum Weinen“.

Spannend zu lesen ist auch das Interview Hans-Ludwig Blohms mit Barnabas Pirjuaq, einem Ältesten, der in seinem Leben alle Phasen der Wandlung seiner Gemeinde von unabhängigen, nomadisierenden Jägern hin zu einem seßhaften Leben voller Abhängigkeiten erfahren hat. Besonders interessant sind die Konflikte, die sich aus der unterschiedlichen Rechtsauffassung von weißer Gesellschaft und Inuit ergeben haben. Die Anwendung weißer Rechtsgrundsätze führt zu Sanktionen, die den Inuit nicht mehr nachvollziehbar sind und bei den Betroffenen tiefe Verzweiflung hervorrufen.

Diesem Aspekt sind auch einige Beiträge gewidmet, die von Armand Tagoona stammen oder sich mit seinem Prozess und tragischen Tod beschäftigen. Als erster Inuit wurde er zum Pfarrer ordiniert, musste aber schließlich erkennen, dass sich Tradition der Inuit und Christentum nicht vereinbaren lassen. Nur die eigene Kultur kann die entscheidenden Hilfsmittel anbieten, um Lösungen für die aktuellen Probleme zu finden. Die Offenheit, mit der Armand Tagoona über seine eigene Kultur spricht, ist bezeichnend. Dabei spart er auch die unschönen Seiten nicht aus, weiß sie jedoch ohne Beschönigung in ein positives Gesamtbild einzufügen, das vom Stolz auf die eigenen Wurzeln zeugt. Schließlich war er mit einer Anklage konfrontiert, in der gerade die Konfrontation zwischen restriktiver, christlicher Moral und traditionellem Sozialverhalten der Inuit die entscheidende Rolle spielte. Wenige Tage nach dem Urteilsspruch wurde Armand Tagoona tot aufgefunden.

Bewegend ist der offene Brief Hans-Ludwig Blohms an den Richter. Seine Antwort lässt immerhin hoffen, dass in Zukunft mancher Schritt in die richtige Richtung getan wird.

Weitere Essays von anderen prominenten Vertreter der Inuit vermitteln gleichfalls tiefe, aber auf den Punkt gebrachte Einsichten über das Selbstverständnis dieser Menschen. Ein Aufsatz des renommierten Historikers Claus-M. Maske zur modernen Entwicklung rundet das Buch ab.

Die Essays werden von einer vorzüglichen Auswahl historischer Schwarz-Weiß-Photos begleitet. Im Mittelteil befindet sich der „Photoessay“ von Hans-Ludwig Blohm, der die Gegenwart von Land und Leuten sowie lebendige Tradition und den Einzug des Fortschritts in prächtigen Farben darstellt. Bilder voller Kontraste bemühen sich allen Facetten der Wirklichkeit gerecht zu werden. Bildbände mit einer derartigermaßen gekonnten und ausgeglichenen Auswahl sind selten.

Am Mittwoch, den 4. Dezember diesen Jahres hatte man Gelegenheit, den Autor bei einer Buchvorstellung in der Ferretti- Galerie, München, persönlich kennenzulernen Ein sympathischer und beredter Mann ging im Anschluß an seinen eindrucksvollen Vortrag mit Geduld und Kompetenz auf die vielen Fragen und Anliegen der Zuhörer ein. Allen Lesern sei abschließend der Kauf dieses Buches ans Herz gelegt. Das Buch verdient mehr als nur Beachtung und sollte in keiner völkerkundlichen Büchersammlung fehlen.

200 Seiten, Leinen, 58,— €. Verlag M. u. H. von der Linden GbR, Wesel

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Dienstag, 4. Februar 2020 15:27:31 CET von oliver. (Version 6)