von Oliver Kluge
(veröffentlicht 4/1995)
Aus den Zeichentrickstudios des US-Medienriesen Walt Disney (nach der Fusion mit Capital Cities/ABC weltweit die Nummer zwei) kommt wieder ein Filmabenteuer auf die Kinoleinwand, das neben Familienspaß auch das große Geld verheißt.
Schon länger geht das unbelegte Gerücht, daß dem Riesen das Geld ausgehe und daher fieberhaft neue Zeichentrickfilme produziert werden müssen, für die ständig händeringend nach geeignetem Material gesucht werde. Dafür mag die Tatsache sprechen, daß die Produktionszeiten immer kürzer werden, somit auch der »Innovationszyklus«.
Daß Disney es mit der Vorlage nicht so genau nimmt, ist nichts neues. Normalerweise ist das auch keineswegs wichtig, aber falls es zur Geschichtsverfälschung sowie zur kulturellen Ausbeutung führt (um nur einige der Vorwürfe zu nennen, denen Disney neuerdings ausgesetzt ist), dann sollte das doch bedenklich stimmen.
Die Geschichte, die der Film erzählt, ist einfach. Im 17. Jahrhundert leben an der Ostküste der heutigen Vereinigten Staaten Indianer glücklich in einfachen Verhältnissen, bauen Mais an, gehen auf die Jagd und sind auch sonst eins mit der Natur. Pocahontas, die schöne Tochter des Häuptlings Powhatan, ist eine erwachsene, schöne Frau. Sie verbringt ihre Zeit hauptsächlich mit ihren Freunden, einem Waschbären und einem Vogel, der seinen Flugkünsten nach wohl ein Kolibri ist. In den Fragen ihres Lebens kann sie auf den Rat ihrer besten Freundin oder eines weisen alten Baums zurückgreifen. Sie wird von dem Indianer Kocoum umworben, lehnt seine Liebe aber ab.
Als eines Tages ein Schiff anlegt, verliebt sie sich in den schönen John Smith (Synchronstimme im Original: Mel Gibson). Der Kapitän des Schiffs, Ratcliffe, ist jedoch nur auf Gold aus. Gierig befiehlt er die Erde nach dem begehrten Metall durchzuwühlen. Als er nichts findet, geraten die Indianer schnell in den Verdacht, das Gold für sich behalten zu wollen.
Bei einer Konfrontation zwischen Kocoum und John Smith wird Kocoum von einem Engländer getötet, und so wächst die Spannung zum Höhepunkt heran. John Smith wird von den Indianern gefangengenommen und soll getötet werden, die Engländer rüsten auf. Der drohende Krieg wird buchstäblich im letzten Moment durch die Liebe von Pocahontas und John Smith verhindert. Ratcliffe wird besiegt, der Raubbau der Natur wird gestoppt und Indianer und Weiße leben in Frieden miteinander und teilen, was sie besitzen.
Soweit die Disney-Version. Die eigentliche Geschichte hat sich etwas anders zugetragen. Vieles läßt sich heute nicht mehr mit Gewißheit rekonstruieren, im 17. Jahrhundert war die Auffassung von Geschichtsschreibung auch eine andere. Fest steht, daß Häuptling Powhatan, Pocahontas und John Smith existiert haben. Doch schon bei John Smith beginnen die Unklarheiten. Einige Quellen bestreiten die Episode zwischen ihm und Pocahontas. Er selbst hat auch erst nach seiner Rückkehr nach England davon berichtet. Die wahren Ereignisse um das Leben von Pocahontas waren etwas komplizierter und haben sich aller Wahrscheinlichkeit so zugetragen:
In Virginia, im Jahre 1595 wurde sie vermutlich geboren. Sie war die Tochter des Häuptlings Powhatan. Pocahontas war hingegen nicht ihr eigentlicher Name, sondern Matowaka. Pocahontas ist wahrscheinlich ein Chippewa-Wort, das als Adjektiv bedeutet, daß »er oder sie scherzhaft, lustig ist« und auf Personen angewandt wird, die »nicht arbeiten mögen und ihre Zeit mit Vergnügungen verbringen wollen« (Hodge, Handbook of American Indians). Ihr 10.000 Mitglieder zählender Stamm, der eigentlich ein Bund von Algonkin-Stämmen war (Powhatan-Bund), stammte eigentlich aus dem Süden, aus dem sie vor den Spaniern fliehen mußten.
Als Zwölfjährige rettete Pocahontas angeblich (Hodge) Captain John Smith das Leben, der die erste englische Siedlung in Virginia, Jamestown, leitete. Er wurde angeblich beim Kartographieren von einem Indianer angegriffen. Sie nannte ihm jedoch nicht ihren richtigen Namen, sondern nur »Pocahontas«. Sie besuchte oft Jamestown, um mit den anderen Kindern dort zu spielen und diente später als Übersetzerin. Sie organisierte einige Gefangenenaustausche. Die Engländer hatten freilich noch ganz andere Probleme: Sie litten an Krankheiten und Unterernährung. So überlebten von 900 Siedlern, die 1607 in Virginia ankamen, nur 150. John Smith erkannte, daß seine Kolonie ohne Frieden mit den Indianern nicht überlebensfähig war.
Seine wahre Einstellung hingegen offenbarte er später in seinen Werken: »The Warres in Europe, Asia, and Africa, taught me how to subdue the wilde Salvages in Virginia…« (Die Kriege in Europa, Asien und Afrika haben mich gelehrt, wie man die wilden Barbaren in Virginia bezwingen kann). Wilcomb E. Washburn bezeichnet Smith in »American Heritage/History of The Indian Wars« als »arrogant und grausam« und die »Quintessenz eines Militärführers des 17. Jahrhunderts«.
Nach der Rückkehr von Smith nach England im Jahre 1609 wurde die Vereinbarungen mit den Indianern bald gebrochen. Pocahontas kam nicht mehr nach Jamestown. 1612 wurde sie mit der Hilfe eines anderen Häuptlings auf das Schiff von Captain Argall gelockt, nach Jamestown verschleppt und dann nach Werawocomoco gebracht, wo Powhatan lebte. Dort wurde — mit der Geisel Pocahontas als Druckmittel — eine Art Frieden geschlossen. In der Gefangenschaft verliebte sie sich in den ersten Sekretär John Rolfe. Im April 1613 heirateten sie, nachdem Pocahontas zum Christentum bekehrt worden war und den Namen »Lady Rebecca« angenommen hatte.
Von diesem Datum an bewahrte Powhatan den Frieden mit den Kolonisten. 1616 segelten Mr. und Mrs. Rolfe nach England, wo diese in damaliger Unkenntnis der sozialen Strukturen der Indianer als Prinzessin bei Hofe empfangen wurde. Da Mr. Rolfe nicht adelig war, wurde ihm diese Ehre nie zuteil. Im März 1617 wollten sie zurück nach Amerika segeln, doch Pocahontas starb noch in England an den Pocken, im Alter von 22 Jahren.
Als 1618 auch noch Powhatan starb, war der Frieden endgültig dahin. Der neue Häuptling Opechancanough (ein Halbbruder von Powhatan) nahm blutige Vergeltung an den Engländern, möglicherweise um sich dafür zu rächen, daß er in Gefangenschaft von John Smith selbst brutal mißhandelt wurde. Eine ungerechtfertigte Hinrichtung eines Indianers durch die Engländer lieferte schließlich den Grund. 1622 kam es zum »Massaker von Virginia«. Daraufhin wurde die Politik der Engländer gegenüber den Indianern auf Ausrottung geändert.
Das Blutvergießen erstreckte sich über ein Jahrzehnt hin. Zehn Jahre war Waffenstillstand, da beide Seiten vor dem Erschöpfungskollaps standen. 1644 schließlich erhoben sich alle Indianerstämme im Umkreis von 800 Kilometern um Jamestown gegen die Kolonie, doch diese, inzwischen auf 8.000 Menschen angewachsen, war überlegen. Die Indianer errangen 1644 kurzfristig vorübergehende Siege, wurden jedoch 1646 von Gouverneur Sir William Berkeley endgültig geschlagen und in die Wälder verdrängt. Opechancanough wurde in Gefangenschaft ermordet.
Zwischen der Disney-Version und dem, was die Geschichtsforschung berichtet, besteht also eine ziemlich fundamentale Diskrepanz. Nun ist präzise Geschichtswiedergabe nicht unbedingt Aufgabe eines Spielfilms, noch dazu eines Disney-Zeichentrickfilms. Doch ob das ein Freibrief für eine wirklich diametral abweichende Darstellung sein kann, darf bezweifelt werden.
Die Darstellung der Indianer selbst ist unter Indianern äußerst umstritten. Dieser Aspekt des Films spaltet. Da gibt es eine nicht gerade kleine Gruppe, die das Indianerbild rundweg ablehnt und kritisiert, daß die Indianer grüne Ökoheilige sind, die mit den rechtschaffenen Engländern anfangs nicht teilen wollen, sondern erst nach dem Beinahe-Krieg. Auch wird die Tatsache hervorgehoben, daß die Raffgier der Europäer auf die Person Ratcliffes konzentriert wird, und mit dieser Person auch ausgeschaltet wird und es so zum einem Happy End kommt. Schließlich bedeutet dies, daß die anderen Engländer eben nicht raffgierig sondern liebe und friedfertige Nachbarn sind, was bekanntlich in Wirklichkeit etwas anders war.
Es gibt jedoch auch eine Gruppe, die das Indianerbild gut findet, da es von einer Frau als zentraler Figur ausgeht und den Einfluß von Kindern in indianischen Kulturen zeigt. Dazu gehört auch Russell Means. Der AIM-Aktivist (American Indian Movement) spielt in Pocahontas selbst mit, er lieh Häuptling Powhatan seine Stimme. Seine Meinung zum Film zeigt das Interview, das Coyote mit ihm führte. Schließlich gibt es bei den Indianern natürlich auch eine große Fraktion, denen die Darstellung in einem Film nicht bedeutend ist und die einen Film als das ansehen, wofür er produziert wird: Unterhaltung.
Pocahontas muß also besonders differenziert betrachtet werden. Als Disney-Film besitzt der Streifen nämlich alle Qualitäten, die »Disneys« schon immer auszeichneten. Er ist ausgezeichnete Unterhaltung und er berührt einen tief. Ob man das verzerrte Indianerbild dagegen aufrechnen soll, mag jeder für sich selbst entscheiden.
Querverweis: Interview mit Russell Means
Pocahontas, Walt Disney Pictures, USA 1995
Regie: Mike Gabriel, Eric Goldberg
Drehbuch: Carl Binder, Susannah Grant, Philip LaZebnik
Musik: Alan Menken
Originalsprecher (Synchronsprecher):
- Pocahontas (Stimme) — Irene Bedard (Alexandra Wilke)
- Pocahontas (Gesang) — Judy Kuhn (Alexandra Wilke)
- John Smitth — Mel Gibson (Sigmar Solbach)
- Gouverneur Ratcliffe — David Ogden Stiers (Joachim Kemmer)
- Wiggins — David Ogden Stiers (Wilfried Herbst)
- Häuptling Powhatan — Russell Means (Gerd Holtenau)
- Großmutter Weide — Linda Hunt (Hildegard Knef)
- Stimme des Windes — Bobbi Page (Constanze Knapp)
- Thomas — Christian Bale (Gunnar Helm)
Link: Trailer auf IMDb
Auf Amazon Prime ansehen (gebührenpflichtig)