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Louise Erdrich: Taubenplage

Louise Erdrich 2015 (Foto: Slowking) Louise Erdrich: “The Plague of Doves” – eine neue Saga aus North Dakota
von Dionys Zink

Kaum eine indianische Schriftstellerin kann auf eine derart lange und produktive Karriere zurückblicken wie Louise Erdrich. Dieser Werdegang ist das Ergebnis disziplinierter und harter Arbeit. Davon konnte sich der Rezensent überzeugen, als er im Sommer 2005 einen Versuch unternahm, die Autorin in Minneapolis aufzusuchen. Zu diesem Zeitpunkt war gerade „Painted Drum“ ihre letzte Erweiterung der Saga um die fiktive Stadt Argus und die sie umgebenden Indianerreservate erschienen. Mit Bedauern nahm man in Erdrichs Buchladen Birchbark Books zur Kenntnis, dass Louise Erdich derzeit keine Besuche empfange, weil sie bereits an einem neuen Roman sitze. Freundlicherweise erhielt der Verfasser dafür eine signierte Ausgabe des neuen Romans.

Mit „The Plague of Doves“ („Die Taubenplage“) erweitert Louise Erdrich das Verzeichnis der Schauplätze ihrer bisher zwölf Romane und bleibt dennoch auf dem ihren Lesern vertrauten Terrain von North Dakota. In Interviews erklärte die Schriftstellerin indianisch-deutscher Abstammung, dass sie den Stoff ihres neuesten Werks bereits seit etwa 20 Jahren mit sich herumtrage, sich aber lange nicht zugetraut habe, ihn in Romanform zu bewältigen.
Das könnte auch daran liegen, dass es sich bei den jeweiligen Ausgangspunkten der Romanhandlung um tatsächliche Begebenheiten handelt.

Manches an diesen Begebenheiten erinnert an den berühmten Kriminalfall in Bayern, der sich vor 86 Jahren zutrug, als auf dem Einödhof von Hinterkaifeck bei Schrobenhausen sechs Menschen erschlagen wurden. Am 17. Februar 1897 ereignete sich auf einer abgelegenen Farm im Umkreis der Stadt Winona (Emmons County, North Dakota) ein sechsfacher Mord. Die Opfer, allesamt Mitglieder der Familie Spicer, waren erschossen und erschlagen worden. Besonderen Abscheu erregte der Umstand, dass sich unter den Opfern auch Zwillinge im Alter von eineinhalb Jahren befanden und mehrere der Leichen verstümmelt worden waren.

Recht bald richtete sich der Verdacht auf eine Gruppe von fünf Indianern, die drei Tage zuvor versucht hatten, in einem illegalen Saloon Alkohol zu kaufen. Der Besitzer des Saloons schickte die Indianer mit der Begründung fort, er habe keinen Schnaps mehr zu verkaufen, da sein Vorrat nunmehr auf der Farm der Familie Spicer eingelagert sei. Diese Auskunft war eher als Witz gemeint, denn Spicer war zwar kein geweihter Priester, predigte aber gelegentlich in der Kirche und galt als völlig unverdächtig, mit dem damals illegalen Schnapsgewerbe zusammenzuarbeiten. Die Nachricht von den schrecklichen Vorfällen erreichte erst drei Tage nach der Tat die Stadt Williamsport, den Hauptort und Gerichtssitz des Countys.

Unter den Verdächtigten befand sich auch Paul Holytrack, ein Junge, der erst 13 Jahre alt war. Er und Phillip Ireland, ebenfalls Indianer, gestanden angeblich die Tat nach ihrer Verhaftung. Im folgenden Gerichtsverfahren wurde Alec Coudotte, einer der Verdächtigen, erstinstanzlich zum Tod durch Erhängen verurteilt. Das Gerichtsverfahren musste mittels Dolmetschern durchgeführt werden, da der Angeklagte kein Englisch, das Gericht und die Jury kein Chippewa verstanden. In dem Verfahren gegen einen weiteren Angeklagten konnte sich die Jury auch nach mehr als 60-stündigen Beratungen nicht zu einem Urteil durchringen. Nach einer Entscheidung des obersten Gerichtshofs des Bundesstaates North Dakota sollte daraufhin auch das Verfahren gegen Alec Coudotte wieder aufgerollt werden. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich Coudotte, Ireland und der Junge Holytrack im County-Gefängnis in Williamsport. Weil der oberste Gerichtshof davon überzeugt war, dass die Schuldbekenntnisse Phillip Irelands und Paul Holytracks nicht ausreichten, um Alec Coudotte der Täterschaft zu überführen, bestand die Möglichkeit, dass alle drei im folgenden Prozess freigesprochen werden würden, weil keine weiteren Beweise vorlagen.

Am Abend des 13. November 1897 erschien eine Gruppe von 40 maskierten Männern vor dem County Jail in Williamsport und forderte Thomas Kelly, dem Gefangenenwärter der Nachtschicht, die Zellenschlüssel ab. Er weigerte sich zwar, wurde jedoch überwältigt und man schleifte die Gefangenen bereits mit der Henkerschlinge um den Hals aus dem Gebäude. Zuerst versuchte man die Indianer in einem Brunnenschacht zu erhängen, dann an einer Blockhütte. Schließlich richtete man sie an einem Lastkran hin. Obwohl es Gründe dafür gibt anzunehmen, dass die Identität aller Teilnehmer des Lynchmobs bekannt war, wurde niemals ein Versuch unternommen, die Täter vor Gericht zu bringen.

Der Ausgang dieser Mordgeschichte, der offenkundige Lynchmord an drei Indianern, von denen einer noch ein Kind war, und die fehlende Aufarbeitung, ganz zu schweigen von einer Strafverfolgung, beschäftigte Louise Erdrich sehr lange, sind Lynchmorde doch Übergriffe rassistischer Volksmengen, die man gemeinhin eher als Auswüchse des Rassenhasses in den Südstaaten gegenüber den Nachfahren der schwarzen Sklaven kennt.

Der Roman befasst sich mit der Frage, wie es den Nachfahren der Beteiligten an diesen ungesühnten Morde ergeht, die in einer Kleinstadt weiterhin zusammenleben. Wie die berüchtigte sizilianische Omérta, die Mauer des Schweigens, welche die Verbrechen der Mafia umgibt, so hüllen sich auch die Bewohner der Kleinstadt Pluto in ihr Schweigen über die bestialische Selbst-„justiz“. In einem Klima der Verleugnung wird vor der jeweils nächsten Generation geheimgehalten, was ansonsten jeder weiß. Und so kommt es zu schicksalhaften Verbindungen zwischen den Kindern und Enkeln der Opfer und Täter.

Typisch für die Romane Louise Erdrichs ist auch in diesem Roman ihre multiperspektivische Erzählweise. Nahezu jede ihrer Geschichten wird aus der Sicht immer wieder wechselnder Beteiligter erzählt, deren Episoden nahtlos ineinander übergehen, manchmal erscheint es fast so, als würden die Figuren einander eine Tür öffnen. Neben Figuren, die man unter anderem Namen bereits aus früheren Romanen kennt, der liebenswerte alte Großvater Nanapush etwa, der in diesem Roman als „Mooshum“ zurückkehrt oder die katholischen Nonnen, die ebenfalls durch fast alle Texte Erdrichs geistern, kommen auch bizarre Figuren hinzu, wie Billy Peace, der Sektengründer indianischer Abstammung und Nachfahre eines der Lynchmordopfer. Seine Frau ist den evangelikalen Klapperschlangen-Fundamentalisten der Appalachen nachempfunden.

Der Titel bezieht sich auf eine weitere merkwürdige Begebenheit, die auf eine Taubenplage in North Dakota im Jahr 1896 zurückgeht. Erdrich schildert, wie eine brav-katholische Indianergemeinde verzweifelt versucht, ihre Anbaufrüchte vor der Heimsuchung durch Taubenschwärme zu schützen, indem sie mit Prozessionskreuz und Pfarrer über die Felder zieht. Typischerweise zeitigt dieses fromme Ansinnen völlig andere Ergebnisse, als man anfangs vermuten würde. Manches erinnert dabei an die berühmte Episode in einem ganz anderen Roman, der ein gewisser Oskar Matzerath sein Leben verdankt.

Louise Erdrich ist eine der Autorinnen, denen man gerne beim Erfinden ihrer Romane zuschauen würde. Wenn dies auch aus naheliegenden Gründen nicht so einfach geht, erfährt man doch von ihr, dass dieser Roman ursprünglich aus einer ganzen Serie von Kurzgeschichten hervorgegangen ist, die sich nach und nach zu einem über mehrere Generationen erstreckenden Erzählstrang entwickelten. Kritiker in den USA halten diesen Roman für Erdrichs bislang anspruchvollstes Werk.

„The Plague of Doves“ erschien im Umfang von 320 Seiten im Mai dieses Jahres bei HarperCollins in New York und ist bei uns über die üblichen Internet-Anbieter zu beziehen. Der Roman ist noch nicht ins Deutsche übersetzt. Üblicherweise vergehen ein bis zwei Jahre, bis der Titel eines Erdrich-Romans auch in deutscher Sprache vorliegt. Erdrich veröffentlichte bisher bei den Verlagen Rowohlt und Eichborn.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Samstag, 29. Januar 2022 20:32:04 CET von oliver. (Version 4)

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