„Die Wunder von Little No Horse“ und „The Night Watchman“
wieder und neu gelesen von Dionys Zink
Zuletzt machte Louise Erdrich mittelbar von sich reden. Der Roman über ihren aus dem Schwäbischen stammenden Großvater, den sie als singenden Metzgermeister vorstellt, der nach North Dakota auswandert, wurde unter der Regie von Uli Edel verfilmt und lief im vergangenen Jahr auch im Programm der ARD. Indianer kommen in Roman und Verfilmung von „Der Club der singenden Metzger“ (Original: The Master Butchers Singing Club; die deutsche Erstveröffentlichung erfolgte unter dem Titel „Der Gesang des Fidelis Waldvogel“) eher nicht vor. Jetzt hat Louise Erdrich ihren sechzehnten Roman vorgelegt, „The Night Watchman“, der sich mit der Lebensgeschichte ihres indianischen Großvaters befasst. Ende 2019 erschien ein älterer Roman Erdrichs erstmalig in deutscher Übersetzung, dessen Originalversion schon einmal im Coyote rezensiert wurde (Coyote-Ausgabe?).
Wunder ohne Pferd
Das sinnliche Klavierspiel einer jungen Klosterschwester treibt ihren Konvent in schwüle Träume. Ein Bankräuber und Mörder wird buchstäblich vom Erdboden verschluckt. Ein steinalter katholischer Priester schreibt in seiner Verzweiflung an den Papst um die Heiligsprechung einer indianischen Nonne zu verhindern. Wie sich all das zu einem großartigen Roman zusammenfügt, kann man der mit 19 Jahren Verspätung erschienenen Übersetzung des Romans „The Last Report On the Miracles At Little No Horse“ entnehmen. Für versierte Erdrich-Leserinnen besteht damit endlich ein deutschsprachiger Zugang zu einem Missing Link in Erdrichs indianischem Mikrokosmos um die Kleinstadt Argus in North Dakota.
Über die Frage, warum der Roman erst jetzt erscheint, kann man nur spekulieren. Vermutlich spielten Verlagswechsel eine gewisse Rolle, wurden doch die ersten Romane Erdrichs bei Rowohlt verlegt, erschienen dann zeitweilig bei Eichborn und Suhrkamp um aktuell in Ausgaben des Aufbau-Verlags erhältlich zu sein. Im „Little No Horse“- Roman gibt es ein Wiedersehen mit Figuren, die bereits in „Liebeszauber“ und „Spuren“, den ersten Romanen der Autorin deutscher und indianischer Abstammung vorkommen, vor allem mit Nanapush, dem sympathischen Anishinabe-Trickster, der die Welt aus seiner Perspektive nur allzu genau durchschaut.
Manches in diesem Roman mit dem barocken Langtitel gemahnt an die tall tales genannten, typisch amerikanischen Lügengeschichten, wie sie meisterhaft zum Beispiel von Mark Twain vor allem für Zeitschriftenbeiträge und späte Sammelbände verfasst wurden. Und wie in den übertriebenen Stories über die Helden, die das (weiße) Amerika erschufen — etwa von Paul Bunyan und seinem blauen Ochsen namens Babe — steckt natürlich auch in Louise Erdrichs Roman jede Menge Wahrheit und Realismus, auch wenn diese für die Leserin bzw. den Leser oft nicht ganz leicht zu verdauen ist. Die Schilderungen vom massenhaften Tod der Anishinabe im Reservat von Little No Horse infolge der Spanischen Grippe um 1920, die Hilflosigkeit des Priesters, der den Tod seiner Gemeinde mitansehen muss und die Verzweiflung der Überlebenden gehören trotz ihrer Beiläufigkeit oder den fantastisch und katastrophisch-amüsanten Episoden an anderer Stelle zu den realistischsten Darstellungen jener Schreckensjahre in den Reservationen nach dem Ersten Weltkrieg.
Manches in diesem Roman liest sich nahezu prophetisch hinsichtlich jüngerer Entwicklungen in der katholischen Kirche etwa was den Priestermangel gerade in den abgelegenen Regionen der Welt mit ihren Ureinwohnern angeht. Zuletzt forderten katholische Gemeinden im Amazonasgebiet, dass auch Frauen zum Priesteramt zugelassen werden sollen. Die Amtskirche hatte einmal mehr nicht den Mut, sich der veränderten Realität zu stellen. Im Gegensatz dazu gehört zu den Wundern von Little No Horse die Geschichte eines Missionspriesters bei den Chippewa, der von einer Frau verkörpert wird. Die Scharade ihres Seelsorgers wird natürlich von den Indianern durchschaut – und anschließend augenzwinkernd-pragmatisch verdrängt.
Dass die kirchlichen Missionsstrukturen sich ganz hervorragend zu einem verbrecherischen Instrument des Völkermordes umfunktionieren ließen, ist natürlich auch der Schriftstellerin Louise Erdrich nur allzu bewusst. Allerdings gelingt es ihr in ihren Erzähltexten immer wieder, die Binnenperspektive derer einzunehmen, die unerschütterlich und manchmal naiv an ihren traditionellen wie christlichen Glaubensüberzeugungen festhalten. Im Kontrast zwischen den positiven Figuren wie dem alten Nanapush und dem barbarischen Handeln im Namen von amtskirchlicher Tradition und traditionellem Glauben an Verhängnisse anderer Charaktere, wird deutlich, dass die ideologischen Unterschiede manchmal Nebensache sind, wenn man nur den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Wache halten: Patrick Gourneaus Lebensgeschichte
In ihren letzthin erschienenen Romanen wandte sich Louise Erdrich verstärkt Begebenheiten zu, wie sie sich im 20. Jahrhundert in den Reservationen und Kleinstädten von North Dakota tatsächlich ereignet haben. In ihrem neuesten Roman „The Night Watchman“, der noch nicht auf Deutsch erschienen ist, befasst sie sich mit der Geschichte ihres indianischen Großvaters Patrick Gourneau, der als ehrenamtlicher Stammesratsvorsitzender der Turtle Mountain Chippewa und hauptberuflicher Nachtwächter eine entscheidende Rolle in den Zeiten des Termination Policy („Beendigungspolitik“) zwischen 1945 und 1965 spielte. Diese Politik zielte darauf ab, das Treuhandverhältnis zwischen den Ureinwohnern und der amerikanischen Bundesregierung einseitig aufzukündigen, die Reservationen aufzulösen und Indianer als normale Bürger ohne besondere Rechte den Gesetzen der jeweiligen US-Bundesstaaten zu unterwerfen. Zahlreiche Stämme wehrten sich erfolgreich gegen diese Politik, die man nicht anders als Flucht der Regierung aus der Verantwortung, den Abschluss des vollständigen Landraubs und die Vollendung des Ethnozids durch Assimilierung charakterisieren kann.
Patrick Gournau gelang es 1954 als Stammesratsvorsitzender der Turtle Mountain Chippewa mit anwaltlicher Unterstützung bis nach Washington DC vorzudringen. Seine Delegation und er machten den Politikern dort glaubhaft, dass die Auflösung der Reservation, ihrer Verwaltung und Dienstleistungsstrukturen, vom Indian Health Service bis zu den Schulen eine unzumutbare Belastung für die umliegenden weißen Gemeinden darstellen würde, da die Anishinabe dann auf deren soziale Unterstützung angewiesen sein würden. Letztlich gelang es den Chippewa damit, die gesetzlichen Bestimmungen der Termination Policy gegen ihre weißen Unterstützer in North Dakota zu kehren. Diese hatten wider besseres Wissen und mit der klaren Absicht Indianerland und Bodenschätze unter ihre Kontrolle zu bringen behauptet, dass die Ureinwohner längst wirtschaftlich auf eigenen Füßen stünden und ihnen Sonderrechte daher nicht mehr angemessen seien. Als Patrick Gourneau darlegen konnte, dass für wirtschaftliche und soziale Stabilität schon allein die Bildungsvoraussetzungen nicht ausreichen würden, war die Termination für die Turtle Mountain Chippewa abgewendet.
Ein zweiter Strang der Erzählung handelt von Patrice, einer jungen Indianerin, die aufbricht, um ihre ältere Schwester zu suchen, die einem jungen Mann aus der Perspektivlosigkeit der Reservation in die Großstadt Minneapolis gefolgt ist. Erdrich stellt damit exemplarisch vor, was insbesondere den jungen Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg drohte, wenn sie der Enge der Reservationen zu entkommen versuchten. Patrice’ letztlich erfolglose Mission führt sie in die gewalt- und drogengesättigte Szene der Stadtindianer, Kleinkriminellen und Bordellbetreiber. Sie wird in einen Nachtclub verschleppt und muss dort in einem blauen Taucheranzug in einem Riesenaquarium als „Babe“ ein Unterwasserballett zur Unterhaltung der Gäste aufführen. Die stereotype Oberfläche – Landei kommt in die Stadt – täuscht: hinter der Anspielung auf die Geschichte vom Holzfäller Paul Bunyan stehen natürlich der Raub und die Zerstörung des indianischen Landes, die Unterwerfung seiner Bewohner und der Missbrauch insbesondere der Frauen durch die weiße Mehrheitsgesellschaft.
Patrice kann der Entwurzelung anders als ihre ältere Schwester noch entkommen, allerdings unter der Bedingung, dass sie sich dem Schutz einer mütterlichen Familienexistenz überlässt. Für eine selbstbestimmte Lebensführung junger Frauen war eben in den Fünfziger Jahren auch in Indianerreservaten noch kein Drehbuch geschrieben. Kein Zweifel kann abare daran bestehen, dass es die Reservationen mit ihrem relativen Schutz vor Entwurzelung und Assimilierung sind, die den Ureinwohnern in den letzten Jahrzehnten ein Überleben ermöglichten.
Die deutsche Fassung des früheren Romans unter dem Titel „Die Wunder von Little No Horse“ wurde wie die letzten Romane Louise Erdrichs von Gesine Schröder kongenial ins Deutsche übertragen. Die Aufbau-Ausgabe dieses Romans (509 S.) kostet 24.00 €.
Auf die deutsche Übersetzung von „The Night Watchman“ will der Rezensent nicht so lange warten.