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Louise Erdrich: Ein Jahr mit sieben Wintern

Louise Erdrich 2015 (Foto: Slowking) Nach der Katastrophe – ein Jugendbuch von Louise Erdrich
Warum man auch Kinder- und Jugendbücher zum Thema Indianer lesen sollte
von Dionys Zink
(veröffentlicht 2/2002)

Interessierte Erwachsene über die Gegenwart nordamerikanischer Indianer zu informieren - so könnte man allgemein und kurz das Anliegen des Coyote beschreiben. In der Öffentlichkeitsarbeit müssen Coyote-Redakteure und AGIM-Mitglieder nicht selten, und nicht in böser Absicht, erst das Lächeln des Gegenübers ertragen, umgehen oder überwinden, das Erwachsene ankommt, wenn sie an die Indianerspiele und die Indianerlektüre ihrer Kindheit zurückdenken. Notwendig ist dies, weil mit Nostalgikern nicht über die harten politischen Auseinandersetzungen, milliardenschwere Vertragsstreitigkeiten oder das soziale Elend in den Reservationen zu reden ist.

Gelegentlich würden wir als Korrektiv für die rosarote Brille der eigenen Kindheit auch mal neuere Kinderund Jugendliteratur empfehlen, die von Indianern verfasst wurde. Und da trifft es sich gut, wenn eine Autorin wie Louise Erdrich, die einem breiten deutschsprachigen Publikum mit ihren Romanen über die Chippewa- Familien in den Reservationen North Dakotas bekannt ist, ein solches Kinderbuch schreibt. „Ein Jahr mit sieben Wintern“ ist die Geschichte über ein Jahr im Leben Omakayas, eines Anishinabe-Mädchens, das mit ihrer Familie im Gebiet des heutigen Minnesotas lebt. Der Leser erfährt so manches vom Alltag der Chippewa (keine Tipis, keine Büffel).

In Louise Erdrichs Romanen für Erwachsene steht meistens eine starke Frau im Mittelpunkt, nicht anders ist es mit ihrem Kinderbuch, das damit jedoch genauso wenig zu einem „Mädchenbuch“ wird, wie Erdrichs andere Werke „Frauenromane“ sind. Was hier beschrieben wird, ist die Rückseite dessen, was allzu häufig die Motive der Abenteuerliteratur ausmacht, die von großen Häuptlingen, mutigen Kriegern und erfolgreichen oder tragischen Kriegsunternehmen erzählt. In einem indianischen Haushalt „geht’s eben nicht immer mutig zu“, schon gar nicht zur Zeit der Pockenepidemie von 1847. Der Kampf mit dem unsichtbaren Feind ist aber nicht weniger dramatisch als die „War Parties“ der Kriegshäuptlinge, und von den Tatsachen her betrachtet und langfristig für viele indianische Völker die größere Katastrophe als der vielbesungene „militärische Pseudo- Untergang des roten Mannes“.

Louise und ihre Schwester Lisa Erdrich haben für diesen Kinderroman gemeinsam mit ihrer Mutter Rita Gourneau Erdrich die Familiengeschichte recherchiert und sind dabei auf eine erstaunliche Indianer-Kindheit im 18. Jahrhundert gestoßen.

Nicht gerade wenig Mühe verwenden indianische Publizisten darauf, ihrem zumeist euro-amerikanischen Publikum einige der Klischees, Stereotypen oder Vorurteile auszureden, welche die Verständigung zwischen amerikanischen Ureinwohnern und Europäern seit Kolumbus’ schicksalhafter Reise belasteten. Und es gibt kaum einen Zweifel in der veröffentlichten Meinung dominiert mittlerweile die Auffassung, dass „how the west was won“ die Bezeichnung Völkermord verdient. Doch selbst dieser Sachverhalt ist längst nicht so eindeutig, wie es so mancher Indianerfreund sich vorstellt. Eine Streitfrage, die zum Beispiel immer wieder diskutiert wird, ist die nach den Opfern der immunbiologischen Katastrophe, die der Entdeckung Amerikas folgte. Die Untersuchungen sind schwierig, weil nur sehr schwer nachzuweisen ist, wenn ganze Völkerschaften weit hinter der eigentlichen Kontaktzone von Europäern und Indianern Infektionskrankheiten zum Opfer fielen.

Nur wenige Massengräber zeugen von den entsetzlichen Folgen etwa der Pocken und anderer Epidemien. Dementsprechend vage sind auch die Angaben über die indianische Bevölkerung zur Zeit der sogenannten Entdeckung. Lange war eine Zahl von nicht mehr als einer Million Indianern in Nordamerika im Umlauf. Rechnet man mit der Sterblichkeit bei Bevölkerungen, die kaum über Abwehrkräfte gegen die eingeschleppten Krankheiten verfügten und zieht man die mündliche Überlieferung über die Ausdehnung von Territorien und transkontinentalen Tauschhandelsbeziehungen hinzu, kommt so manche Studie zu anderen Dimensionen. Auch für nordamerikanische Regionen, in denen nur wenige präkolumbianische Artefakte oder Spuren menschlicher Aktivität nachgewiesen wurden. Selbst im zeitgenössischen Vergleich mit europäischen Ländern, waren einige Regionen, insbesondere an den Küsten, sogar sehr dicht besiedelt.

Was das mit der Gegenwart zu tun hat? Noch um die Jahrhundertwende und zur Zeit des 1. Weltkriegs starben Tausende von Indianern etwa in British Columbia oder Alberta an Infektionskrankheiten. Es sind die Territorien, von denen Regierungen und Rohstoffkonzerne behaupten, sie seien ungenutzt, menschenleer und niemandes Eigentum, die einstmals von den Opfern der Seuchen bewohnt waren. Diese Territorien sind das Erbe der Überlebenden, nicht der Staaten und nicht der Konzerne.

Louise Erdrich: Ein Jahr mit sieben Wintern ist im Verlag Sauerländer Aarau und Frankfurt/ M. erschienen. Der Roman umfasst 226 Seiten einschließlich eines Glossars, in dem Begriffe der Sprache der Anishinabeg (Chippewa) erklärt werden. Auch die Illustrationen stammen von Louise Erdrich. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Sylke Hachmeister. Die gebundene Ausgabe kostet 15,80 €.

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Samstag, 29. Januar 2022 20:29:58 CET von oliver. (Version 5)