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Frederik Hetman: Sich selbst erfinden

Frederik Hetman Frederik Hetmann zum 70. Geburtstag
(nachträglich, uns aber dennoch wichtig)
von Dionys Zink
(veröffentlicht 2/2004)

Weit mehr als vierzig Bücher stapeln sich eindrucksvoll auf dem Boden, in Vorbereitung auf eine mögliche Ausstellung an einer Schule im Münchener Umland. Lächerlich wenig, wenn man bedenkt, dass die Bibliographie des Hans Christian Kirsch und seiner Pseudonyme mehr als dreihundert selbstständige Titel umfasst.

Viele Coyote-Leser, und ganz sicher einige Coyote-Autoren, dürften mit Frederik Hetmanns Texten zum erstenmal authentischen Indianerbüchern begegnet sein. Zu Beginn der 70er Jahre gab es kaum Indianerliteratur in deutscher Sprache, die nicht entweder in der Nachfolge Coopers, Gerstäckers oder Karl Mays stand oder aus der amerikanischen Western-Hagiographie (How the West was Won) abgeleitet war. Mit den Märchenausgaben, seinerzeit vor allem als Fischer-Taschenbücher, heute neu aufgelegt und überarbeitet im Verlag Königs Furt, konnte man schon sehr früh erfahren, welche kulturelle Vielfalt der amerikanische Kontinent und seine Ureinwohner hervorgebracht haben.

Mit dieser Sisyphus-Arbeit legte Hetmann einen der Grundsteine für das, was die Arbeit vieler Indianerunterstützer in den letzten drei Jahrzehnten getragen hat: Die Forderung nach authentischer Information über die amerikanischen Ureinwohner der Gegenwart.

„Indianer“ waren und sind bis heute ein Kinder- und Jugendthema, das beweisen die zahlreichen Anfragen, die monatlich auf den AGIM-Schreibtischen landen, von Schülern, Eltern und Lehrern, die sich ein Indianerprojekt vorgenommen haben. Hetmanns Kindersachbücher und Erzähltexte können auch heute noch Ausgangspunkt für die gedankliche und praktische Auseinandersetzung mit indianischen Kulturen sein. Im Bestand der umfangreichen Sammlung deutschsprachiger Indianerliteratur in den Räumen des AGIM-Büros trifft diese Feststellung auf zahlreiche Publikationen auch ausgewiesener Fachleute nicht unbedingt zu.

„Mit Haut und Haar“, Kirschs erster Roman, ist so etwas wie ein Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung des Schriftsteller, Übersetzters und Herausgebers. Erzählt wird darin die Geschichte einer Generation oder doch eines Teils davon, deren wichtigste Leistung aus der Sicht eines heutigen Lesers darin bestanden haben könnte, sich selbst zu erfinden, statt vor den Schutthaufen der Nachkriegszeit in Deutschland zu verzweifeln. Erzählt wird Hans Christian Kirschs eigene Geschichte, von der Flucht aus Thüringen, den Trampfahrten in den 50er Jahren quer durch Europa, zu einer Zeit als die Deutschen sich aus nachvollziehbaren Gründen kaum ins Ausland trauten.

Über das, was Rezensenten und Leser vor mehr als vierzig Jahren provozieren sollte (und es wohl auch tat), die Sprache zum Beispiel oder die scheinbare Bedenkenlosigkeit mit der „offene“ Beziehungen gelebt und dargestellt werden, mag man heute lächeln. Kirschs Ausbrüche aus der Enge der 50er Jahre sind heute noch erfrischend. Sie zeigen exemplarisch, dass Jugendliche das Recht haben (und auch die Pflicht?) sich selbst zu erfinden.

Hans Christian Kirsch wurde am 17.2.1934 in Breslau geboren. Die deutsche Nachkriegsgeschichte und die Situation der Jugendlichen in jenen Jahren waren das erste publizierte Thema des noch jungen Autors. Ein zeitgenössischer Rezensent des Roman-Erstlings hebt in einer Vertriebenenzeitschrift hervor, dass der Autor Nachfahre eines verdienten Teilnehmers der Schlacht bei Leuthen gewesen sei.

Sich selbst erfinden, autonomes Handeln also, führten Hans Christian Kirsch dazu, sich rasch aus der Vereinnahmung durch Vertriebenenverbände zu emanzipieren. Die Begegnung mit der Literatur der Beats und den „Tall Tales“ der amerikanischen Erzähltradition, das Sammeln amerikanischer Folksongs und die Suche nach den Ursprüngen fremder Identitäten in Märchen und Sagen bildeten ein tragfähiges Fundament für Kirschs umfangreiches und noch immer wachsendes Lebenswerk.

Die Buchtitel und die von Hetmann bearbeitete Stoffe widerspiegeln diese wichtige menschliche Fähigkeit, sich im Protest gegen die Zumutung des Daseins immer wieder neu zu definieren: da begegnet man dem erfindungsreichen Odysseus (Der Kelim der Aphrodite), der werdende Schriftsteller Harry Heine bricht ein Tabu „… und küßte des Scharfrichters Tochter“ oder man liest von B.Traven, dem „Mann der sich verbarg“, weil er als gesuchter Münchener Räterevolutionär noch im fernen Mexiko aus Angst vor Verfolgung gezwungen war, sich neu zu erfinden. Identität und Biographie sind die großen Themen geworden, die nicht nur Frederik Hetmann umtreiben. Jeder, der sich ernsthaft mit Indianern befasst, wird nicht umhinkommen, seinen Spuren auf einem Stück seines Wegs zu folgen.

Wir wünschen Hans Christian Kirsch, Martin Federspiel und Frederik Hetmann alles Gute zu ihren siebzigsten Geburtstagen und hoffen ganz eigennützig, dass ihnen die Kraft sich selbst zu erfinden noch lange erhalten bleibt.

Nachtrag: Hans Christian Kirschs Schaffenswut scheint ungebrochen. In diesem Jahr erscheinen neue Bücher, die sich mit deutsch-polnischer Verständigung befassen, und zwei weitere Biographien, zu Gottfried Benn und Stendhal. Bei Königs Furt erschien bereits zu Jahresbeginn eine Festschrift, in der sich Freunde, Wegbegleiter und Mitarbeiter zu Wort melden.

Weitere Informationen finden sich unter: www.hans-christian-kirsch.de

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Mittwoch, 12. Februar 2020 15:17:53 CET von oliver. (Version 2)

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