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François Garde: Was mit dem weißen Wilden geschah

Ein überraschender Debütroman aus Frankreich – nach der wahren Geschichte eines französischen Seemanns
gelesen von Dionys Zink

„Culture Crossing“ und „Going Native“ sind feste Redewendungen, die einen zentralen Topos in der Auseinandersetzung mit Ureinwohnervölkern bezeichnen, den „Wunsch Indianer zu werden“, wie es Franz Kafka einmal in einem kurzen Text skizzierte. Was früher als Wunschtraum zivilisationsmüder Europäer galt und heute als Wochenendphantasie der Mittelschicht in Tipi-Camps ausgelebt wird, konnte unter bestimmten Umständen buchstäblich zur Überlebensstrategie werden.

Der französische Autor François Garde erzählt eine solche Geschichte, die zur Zeit der ersten Besiedlung Australiens mit einer britischen Sträflingskolonie in der Mitte des 19. Jahrhunderts spielt. In Umrissen handelt es sich dabei um eine wahre Begebenheit. Ein junger französischer Seemann wird in einer nautischen Zwangslage an der unerforschten Küste des fünften Kontinents an der Halbinsel, die heute als Cape York bezeichnet wird, zurückgelassen. Nach vier Tagen ohne Wasser wird er Aborigine-Gruppe halbtot aufgefunden. Eine ältere Frau adoptiert den Fremden vorübergehend und sichert ihm so die Unterstützung ihrer Verwandten. Zwar versucht der Weiße mit allen möglichen Mitteln zurück in die europäischen Zivilisation zu gelangen, allein die Geographie und die von der Natur bestimmten Wanderrouten der Ureinwohner machen die Rückkehr unmöglich.

Siebzehn Jahre später wird der „weiße Wilde“ von Briten aufgegriffen, die erst nach einiger Mühe die französische Herkunft des Mannes aufklären können, weil er noch einige Worte seiner Muttersprache, wenn auch nur bruchstückhaft, äußern kann. Narcisse Pelletier, der weiße Wilde, wird einem zufällig in Sidney weilenden französischen Geographen und Forschungsreisenden übergeben, der sich Hoffnungen macht in Narcisse einen Gewährsmann zur Erforschung der damals praktisch noch unbekannten australischen Ureinwohner gefunden zu haben. Der Weg des gewesenen Aborigine und Franzosen zurück in europäische Verhältnisse stellt sich als ausgesprochen mühsam dar. Für den Forscher gerät die Präsentation seines Gewährsmannes vor einer Gelehrtengesellschaft in Paris zum Fiasko, denn der über und über tätowierte Narcisse schweigt beharrlich über seine Aborigine-Vergangenheit. Ein französischer Jesuit, erfahren in der Mission kanadischer Indianer, erklärt ihn schließlich zum Scharlatan und beruft sich dabei auf seine Erfahrungen bei den Ojibway Nordamerikas, die immer bereitwillig Auskunft über ihre Kultur gegeben hätten.

Was diesen Roman so interessant macht, ist der Umstand, dass der Autor Garde, im Vergleich zu vielen anderen Autoren, die sich an ethnographischen Sujets versuchen, niemand weismachen will, dass hier eine authentische Insiderfigur die Geheimnisse der Traumzeit ausplaudert. Ihm geht es vor allem um die Frage, was der Sprung in die Steinzeit und zurück mit dem Menschen macht, der ihn durchleben muss. Damit dürfte er den tatsächlichen leidvollen Erfahrungen nach Europa verschleppter Ureinwohner, aber auch der „Europäer gone native“ viel näher kommen, als zum Beispiel die notorische Bestseller-Autorin Marlo Morgan. Das alles wird spannend erzählt in einem Wechsel zwischen abenteuerlichem Erzählbericht und Briefen an die Gelehrtengesellschaft in Paris.

„Was mit dem weißen Wilden geschah“ ist der erste Roman des 59-jährigen François Garde, der längere Zeit als Beamter Frankreichs auf Neu-Kaledonien tätig war. In Frankreich wurde der Roman als bester neuer Roman 2013 mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet.

„Was mit dem weißen Wilden geschah“ von François Garde ist in einer gebundenen Ausgabe mit 318 Seiten bei C.H. Beck erschienen und kostet 19,95 €.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Freitag, 17. Januar 2020 18:05:00 CET von oliver. (Version 2)