Boarding Schools in den USA
von Robert Stark
(veröffentlicht 2/2007)
Internate für indianische Kinder sind kein neues Thema, doch wurde es in den letzten Jahren permanent in den Blickpunkt gerückt: durch die öffentliche Diskussion in Kanada und das prinzipielle Eingeständnis der kanadischen Regierung, dass die Geschädigten Anspruch auf Wiedergutmachung haben. Auch in den USA waren Internatschulen seit dem Jahr 1870 Teil eines staatlich geforderten und geförderten Umerziehungsprogrammes.
Hintergrund war die Doktrin vom „Manifest Destiny“. Göttliche Vorhersehung hätte die weißen Einwanderer dazu ausersehen, vom amerikanischen Land, seinen Früchten und Bodenschätzen Besitz zu ergreifen. Die indianische Kultur wurde als unterlegen und dem Untergang geweiht angesehen. Selbst Weiße mit einem romantisch verklärten Indianerbild – vorwiegend im Osten der Vereinigten Staaten – waren in der Regel von der Zwangsläufigkeit dieses Prozesses überzeugt.
Ein wirkliches Verständnis für die völlig anderen Indianerkulturen war ihnen fremd. Diesen gar die Fähigkeit zur teilweisen Anpassung an neue Lebensumstände bei Wahrung eigener Traditionen zuzusprechen, war nicht vorstellbar. Die letzten 150 Jahre haben uns eines besseren belehrt. Trotz widrigster Umstände haben viele indianische Kulturen erstaunlichen Überlebenswillen gezeigt und unterschiedlichste Überlebensstrategien entwickelt. In einigen Regionen mit mehr, in vielen anderen mit weniger großem wirtschaftlichen Erfolg. Überall gilt dort jedoch heute das Motto: „We are still alive“.
Damals war jedoch die allgemeine Überzeugung: Nur Indianer, die in der Lage wären, sich die weiße Kultur anzueignen, hätten eine Überlebenschance. „Den Indianer zu töten und den Menschen zu retten“ war ein philanthropisch verkleideter Slogan, der einer rigorosen Assimiliationspolitik mit verheerenden Folgen für die betroffenen Individuen einen scheinbar humanistischen Deckmantel verlieh. Richard Henry Pratt, Gründer der Carlisle Indian School hatte ihn geprägt.
1870 gewährte der Kongress einen jährlichen Etat von 100.000 $ für Aufbau und Unterhalt von Schulen auf den Reservaten. Allerdings fehlte es an staatlichem Personal und nur Wenige hätten die Bereitschaft aufgebracht, sich weitab der Zivilisation auf einem Reservat um die Erziehung und Ausbildung von „Wilden“ zu kümmern. Christliche Kirchen und Missionsgesellschaften waren deshalb ein willkommener und ungleich besser motivierter Partner, um das Indianerproblem zu lösen und die rote Bevölkerung gefügig zu machen.
Bereits 1869 wurden Ihnen weitreichende Handlungsbefugnisse für diese Arbeit auf dem verbliebenen Reservatsland erteilt. Bezeichnenderweise führte dies im Bereich der „Indianererziehung“ zu einer völligen Verwischung des Prinzips der Trennung von Staat und Kirche. Die Regierung versprach sich von der „Christianisierung“ eine positive Wirkung auf die Schützlinge und förderte Kirchenbesuche und Religionsunterricht.
Bereits in dieser Anfangsphase waren die indianischen Muttersprachen und die traditionelle Spiritualität an den Schulen tabu. Die Nähe zu den Wohnorten ihrer Familien, in denen die Kinder noch großteils am Abend zurückkehrten, war jedoch ein großes Hindernis beim Versuch die Kinder mit den Wertbegriffen der Weißen zu indoktrinieren. Aus diesem Grund verlegte man die Internate bald in die Nähe der Verwaltungszentralen der Reservationen.
Den Kindern waren Familienbesuche nur noch in den Sommermonaten und für wenige Tage über Weihnachten erlaubt. Aber auch diese Regelung erbrachte der Regierung nicht schnell genug die gewünschten Fortschritte. Einer der Gründe hierfür war, dass sich nun die Eltern auf den Weg machten, um ihre Kinder zu besuchen und auf diese Weise noch immer Begegnungen mit traditioneller Sprache und Kultur regelhaft stattfanden. Schließlich schickte man die Kinder auf Internate fernab der Heimat, oft hunderte von Kilometern entfernt.
Vorbild war das Experiment des Leutnant Richard Henry Pratt, der ab 1875 indianische Gefangene der südlichen Plains in Fort Marion Florida beaufsichtigte und von der Idee beseelt war, ihnen die Sprache der Feinde beizubringen. Drei Jahre danach wurde das Internierungslager aufgelöst. Pratt setzte jedoch seine „Mission“ mit einigen Freiwilligen seiner ehemaligen Häftlinge an einer Schule in Hampton, Virginia fort.
Schließlich erlaubte man ihm eine verlassene Militärbaracke in Carlisle, Pennsylvania zu beziehen. Dort entstand eine Musterschule mit „Vorbildcharakter“. Dieser Typ der „off-reservation-school“ schien der US-Regierung endlich ein geeignetes Modell zur Beschleunigung der Assimilierung indianischer Völker zu sein. Die angewandten Methoden hinterließen jedoch bei den meisten Zöglingen schwere seelische Narben. Typische Elemente der Umerziehung waren:
- Zwangsweise Deportation der Kinder aus der Heimat in ferne Regionen
- Äußerliche Anpassung: Schneiden der Haare (gerne in Vorher- und Nachher-Bildern dokumentiert), Tragen europäischer Kleidung und Schuluniformen
- Neue, angloamerikanische Namensgebung (in der Negierung von traditionellen, oft mit der Biografie verbunden, beispielsweise bei einer Visionssuche erworbenen Namen, steckte System.)
- Verbot der Muttersprache
- Verbot der Ausübung traditioneller Rituale und Religionsausübung
- Gezielte Christianisierung
- Paramilitärische Disziplin in der Organisation des Tagesablaufes
- Nahezu kein Privatleben und Kontrolle der Kommunikation nach außen
- Erziehung und Berufsausbildung nach angloamerikanischem Vorbildern
- Längere Gastaufenthalte bei weißen Familien als Bedienstete
- Ausbeutung als billige Saisonarbeiter bei weißen Bauern und Handwerkern
- Harte Strafen bei Verstößen gegen die Regeln: Entzug von Privilegien und Nahrung, Strafarbeiten, körperliche Züchtigung,
- „Mundseifung“ bei Benutzung der Muttersprache u.v.a.
Trotz harter Strafen versuchten viele Zöglinge den Kontakt oder die Erinnerung an die traditionelle Kultur zu bewahren. Zahlreiche Internatsschüler unternahmen verzweifelte Fluchtversuche, mehr aus Heimweh denn als Reaktion auf das streng reglementierte Leben und die Angst vor Strafen.
Hinzu kamen schwierige Lebensbedingungen: Die Gebäude und Unterkünfte waren heruntergekommen und überfüllt. Die sanitären Anlagen waren häufig in einem katastrophalen Zustand. Die Lebensmittelversorgung und Ernährung war schlecht und Mangelerscheinungen an der Tagesordnung. Dies stand im krassen Gegensatz zur Tatsache, dass an vielen Schulen landwirtschaftliche Fertigkeiten gelehrt wurden. Die Früchte dieser Bemühungen wurden jedoch eher zur Schulfinanzierung als zur Eigenversorgung eingesetzt. Gleichermaßen schlecht war die medizinische Versorgung.
Tatsächlich kam es auch häufiger zu Todesfällen, wobei neben äußeren Einflüssen auch psychische Faktoren, wie Heimweh und unbewältigte Kulturschocks eine Rolle spielten. Auch Selbstmorde waren keine Seltenheit. Schlecht dokumentiert sind extreme Traumatisierungen, wie sexueller Missbrauch, da die Betroffenen in der Regel alleine aus Schamgefühl geschwiegen haben. Die individuellen Schicksale vieler Flüchtling spiegeln im kleinen Rahmen die gleiche Dramatik, die ganze Stämme, wie die Nez-Perce oder die nördlichen Cheyenne zu spektakulären Fluchtbewegungen veranlasst hatten.
Im Jahr 1887 wurde das Carlisle-Modell durch den Dawes Act zum offiziellen Bestandteil der Regierungspolitik. Das gleiche Gesetz trug durch die Privatisierung kollektiven Reservationslandes zur drastischen Verringerung der indianischen Landbasis, indem „überschüssige Gebiete“ nun an den Staat oder Privatpersonen vergeben werden konnten. Zynischerweise wurde zwei Jahre nach dem Erlass des Dawes-Acts ein eigener „Schulfeiertag“ zu Erinnerung an dieses Ereignis und sein „Potential“ eingeführt.
Der 1889 eingesetzte Kommissar für indianische Angelegenheiten Thomas Morgan führte diese Linie konsequent fort. Bei seinem Amtsantritt ließ er verlauten: „Wenn wir über die Erziehung von Indianer sprechen, meinen wir das umfangreiche Bildungs- und Ausbildungssystem, das sie in amerikanische Bürger verwandeln wird, das ihnen ermöglicht die Segnungen zu empfangen, die wir Übrigen alle genießen, und sie befähigen wird, mit dem Weißen Mann zu konkurrieren, auf dessen Territorium und mit dessen eigenen Methoden.“ Indianischer Kultur wurde weiterhin kein Eigenwert zugesprochen. Widerstand seitens der Kinder oder der Eltern rechtfertigte je nach Hartnäckigkeit auch drakonische Strafmaßnahmen, deren Durchsetzung nicht selten indianischer Reservationspolizei oblag.
Während Pratt und Morgan davon überzeugt waren, dass Indianer durch entsprechende Förderung auch zu hochqualifizierten Berufen aufsteigen könnten, verfolgte ab 1901 Estelle Reel, die neue Verantwortliche für Indianische Erziehung, eine andere Linie. Die Prinzipien ihrer Vorgänger hielt sie für zu unwirksam. Allzu akademische Bestrebungen lehnte sie ab. Wichtig sei, den Indianern so schnell wie möglich selbstgenügende Wirtschaftformen beizubringen.
Die Schwerpunkte der Ausbildung lagen deshalb auf den Gebieten Landwirtschaft und Handwerk, was regelrecht bedeutete, eine Masse von indianischen „Agrar-Analphabeten“ hervorzubringen. Ihr Vorgänger Morgen war über die resultierende Chancenungleichheit empört, was Reel nicht davon abbrachte, ihr Konzept konsequent zu erfolgen. Immerhin ließ sie nun die Ausübung traditionellen indianischen Handwerks zu. Allerdings nur vor dem pragmatischen Hintergrund, dass diese Produkte einen Absatzmarkt hatten und in manchen Regionen eine der wenigen Möglichkeiten des Gelderwerbs überhaupt waren.
Reels Vorstellungen prägten die Indianderschulen vielerorts bis in die ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg.
Trotz dieser Schreckensszenarien, die bei vielen indianischen Schülern schwere seelische Schäden hinterlassen haben, ist es wichtig zu erkennen, dass die meisten Protagonisten der Indianererziehung keine Kinderschinder mit einem Hang zum Sadismus waren. Sie waren „Überzeugungstäter“, die selbst von ihrer eigenen Erziehung und dem vorherrschenden Zeitgeist geprägt waren, in gewisser Hinsicht „Opfer ihrer eigenen sozialen Prägung“.
Damit kann und darf die verfehlte Erziehungspolitik nicht gerechtfertigt werden. Eine Auseinandersetzung mit ihren Ursachen und die Aufarbeitung der Folgen bedürfen jedoch einer differenzierten Betrachtungsweise. Personen wie Pratt oder Morgan hielten ihre Erziehungspolitik tatsächlich für den einzig gangbaren Weg. Überzeugungstäter waren natürlich erst recht die vielen Geistlichen, die vor Ort im alltäglichen Kontakt mit ihren indianischen „Schützlingen“ standen. Auch sie waren im wahrsten Sinne des Wortes von ihrer „Mission“ erfüllt.
Viele dieser Geistlichen gingen jedoch auch so manchen Kompromiss ein und setzten sich intensiv mit der indianischen Kultur auseinander, freilich nur um die eigene Botschaft umso effizienter vermitteln zu können. Dies war natürlich vorwiegend nur in den Fällen möglich, wo die Schulen noch eine gewisse Anbindung an das traditionelle, kulturelle Umfeld hatten. Dort leisteten die Missionare jedoch zunächst unfreiwillig auch einen Beitrag zur Bewahrung einzelner Aspekte indianischer Kultur.
Nicht alle Weißen waren auch völlig unsensibel gegenüber dem Scheitern ihrer Konzepte. Im Gegenteil. Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts herrschte eine weit verbreitete Unzufriedenheit mit der damaligen Situation, die den Minister des Inneren dazu veranlasste, das Brookings-Institut in Washington eine Studie anfertigen zu lassen. Die nach ihrem hauptverantwortlichen Autor Lewis Meriam benannte Untersuchung erschien 1928 und prangerte die Missstände in eindeutiger Weise an.
Es wurde nicht nur wieder eine Chancengleichheit bei der Ausbildung indianischer Kinder gefordert, die den Zugang zu jedem beliebig qualifizierten Beruf ermöglichen sollte. Auch die Integration von zentralen Elementen der indianischen Kultur zählte zu den Petita. Mehr noch, dem Sinn nach strebte Meriam eine Art bikulturelle Erziehung an, die es erlauben sollte, eigene Traditionen zu pflegen und zugleich mit der Welt der weißen vertraut zu werden. Tatsächlich erzielte Meriams Bericht eine nicht unbedeutende Öffentlichkeitswirkung. Der Etat für die Schulen wurde deutlich erhöht, Gebäude renoviert, die medizinische und ernährungstechnische Versorgung verbessert. Viele „off-reservation schools“ wurden geschlossen und die Einrichtung von Schulen auf den Reservaten bevorzugt. Dennoch wirkten die alten Prinzipien ebenso weiter, und die Umsetzung der Vorschläge Meriams erfolgte je nach Region in völlig unterschiedlichem Maße.
Erst mit den 70er Jahren und dem neu entstandenen indianischem Selbstbewusstsein treten auch die indianischen Inhalte auf Reservatsschulen gleichberechtigt neben andere Ausbildungsziele für ein Berufsleben in einer modernen Gesellschaft. Neben staatlichen und konfessionell geleiteten Schulen sind nun auch Schulen unter rein indianischer Leitung entstanden. Mittlerweile hat auch an den noch existierenden konfessionellen Schulen ein für beide Seiten schmerzhafter Prozess der Selbstreflexion und Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Institution eingesetzt.