Am Grab von Chief Seattle
von Dionys Zink
(veröffentlicht 4/2009)
Rechts des Highways wartet ein großes Spielkasino auf vergnügungssüchtige Großstädter, um den Squamish-Indianern einen warmen Geldregen zu verschaffen. Der klotzige Betonbau des Clearwater Casinos wirbt mit Kanus im Logo und einer „Chief Seattle Suite“ im vierten Stock. Man sieht dem Laden an, dass er beträchtliche Einnahmen erzielt. Das ist nicht überraschend, schließlich ist der Glücksspielbunker in einer Dreiviertelstunde von der Metropole Seattle aus mit der Fähre über den Puget Sund zu erreichen.
Linkerhand weist nur ein winziges Schild auf „Sealth’s Grave“ hin. Der unscheinbare Friedhof neben einer ebenso bescheidenen Kirche liegt etwas versteckt und abseits der Hauptverkehrsstraße, welche die Olympic Halbinsel mit Seattle verbindet. Am Weg steht ein verrosteter Pick-up, dessen Ladefläche mit allem möglichen Eisenschrott beladen ist. Am Rückspiegel hängt der unvermeidliche Traumfänger und auf dem Armaturenbrett liegt ein schwärzlich gefärbter Totenschädel aus Gummi. Die weitere Umgebung vermittelt den Eindruck einer ärmlichen Reservatssiedlung mit den typischen einstöckigen Regierungsbauten, die überall in den amerikanischen Reservationen anzutreffen sind. Auf dem Friedhof bietet sich ein ergänzendes Bild. Die engen Gräberreihen sind nur an den kleinen Grabplatten am jeweiligen Kopfende zu erkennen. Und sehr oft lautet die Inschrift „Unknown“.
Prominent ist allerdings der Grabstein, der 1890 zu Ehren des Häuptlings Seattle errichtet wurde. Er trägt die Inschrift
Die Rückseite nennt den Taufnamen Noah Sealth und beziffert das wahrscheinlich erreichte Lebensalter mit 80 Jahren.
„Die Rede des Häuptling Seattle“ galt nicht nur im deutschsprachigen Raum als so etwas wie das Öko-Manifest einer ganzen Generation, die eine Bewusstseinswende forderte. Die Rede schien mustergültig zu formulieren, was der ökologische Zeitgeist damals oft noch eher fühlte als dachte. Der Mensch sollte im Einklang mit der Natur leben, sich als Teil eines Großen und Ganzen betrachten. Nur dann würde es ihm gelingen, den Planeten weiter zu bevölkern, ohne Umweltkatastrophen zu verursachen.
Historiker und Ethnologen forschten schon in den 80er Jahren nach, was an dieser Rede echt ist und stellten bald fest, dass der von Seattle so poetisch angesprochene Ziegenmelkervogel, die Büffeljagd und auch die bedrohlich geschilderte Eisenbahn in einer wirklichen Rede des Häuptling im Jahr 1855 gar nicht hätten vorkommen können. Seattles Volk lebte an der Pazifikküste, wo weder Bison noch Ziegenmelker heimisch sind. Eine Eisenbahn wurde erst lange nach dem Vertragsabschluss gebaut.
Die Rede des Häuptlings Seattle ereilte damit dasselbe Schicksal, das auch einen beliebten Greenpeace-Aufkleber mit einer „Weissagung der Cree“ erwischte, die sich als sympathische, aber eben erfundene Botschaft entpuppte. So schnell wollten die Öko-Ideologen ihren Heiligen jedoch nicht aufgeben. Herbert Gruhl, einer der Ur-Grünen und späterer Gründer der konservativen Ökologisch Demokratischen Partei (ÖDP) räumte zwar ein, dass die am weitesten verbreitete Version der Rede nicht echt sein könne, behauptete aber, dass es einen anderen, diesmal echten, Text gäbe, welcher aus der Fassung eines Zeitzeugen entstanden sei.
Das genaue Geburtsjahr Sealths ist nicht bekannt, man vermutet, dass er etwa 1786 geboren wurde, und weiß, dass er 1866 starb, also ein vergleichsweise hohes Alter erreichte. Seine Eltern waren Angehörige der Suquamish und Duwamish, indianischer Stämme, die der Sprachgruppe der Küsten-Salish zugeordnet werden. Außer den Eigenschaften eines großen Kriegers in den Auseinandersetzungen mit den S’Klallam und anderen indianischen Nachbarn, zeichnete ihn eine weittragende Stimme und anscheinend auch eine besondere rednerische Begabung aus.
Im Jahr 1848 wurde Sealth auf den Namen Noah katholisch getauft. Wie in anderen Fällen von indianischer Bekehrung auch, bleibt Sealths Christentum eine eher fragwürdige Angelegenheit, verstanden viele Indianer doch die Taufe als eine Zeremonie unter vielen, die nicht notwendig die Abkehr von den eigenen traditionellen Glaubensvorstellungen bedeuten musste.
Es ist anzunehmen, dass Sealth anlässlich des Vertragsabschlusses am 11. März 1854 gesprochen bzw. eine Rede vor einer Versammlung von Indianern und Weißen gehalten hat. Dies kam ihm wegen seines Status als Repräsentant seines Volkes zu. Was er aber genau gesagt hat, ist nicht überliefert. Die Versammlung war von Gouverneur Isaac Stevens einberufen worden, der den Indianern Siedlungsland abkaufen wollte.
Sealth sprach in seiner Muttersprache, seine Ausführungen wurden ungefähr in die indianische Handelssprache Chinook und daraus dann von einer weiteren Person ins Englische übersetzt. Sealth trat für eine vertragliche Verständigung mit den Weißen ein, weil er sich für seine Angehörigen den Schutz vor den mächtiger werdenden Nachbarn, den Snohomish erhoffte, die ihrerseits von weißen Siedlern vertrieben worden waren. Wenig später verhinderte er 1856, dass seine Verwandten mit den Snohomish eine gemeinsame Reservation beziehen mussten, weil er in diesem Fall Auseinandersetzungen mit den traditionellen Feinden befürchtete.
Ein Augenzeuge namens Dr. H. Smith will aus Notizen zur Rede von 1854 eine englische Fassung erstellt haben, die laut eigener Aussage jedoch nur einen Bruchteil des tatsächlich Gesagten erfassen. Die Echtheit der Aussagen kann mit Recht bezweifelt werden, weil das Chinook kaum geeignet scheint, den Inhalt einer derart differenzierten Rede abzubilden. Eine Übersetzung aus der Handelssprache ins Englische, die dann notizenartig festgehalten und redaktionell überarbeitet wurde, als Sealths Rede auszugeben, ist wohl eher ein Fall von „stiller Post“ als ein authentischer Text.
Smiths Version wurde 1891, also erst 37 Jahre später, veröffentlicht. Wann Smith seine Notizen in eine Rede umgearbeitet hat, ist nicht bekannt. In veränderten und ergänzten Fassungen tauchte sie auch 1929 und 1931 auf. Schließlich ließ die Southern Baptist Radio and Television Commission in den 60er Jahren einen Film mit dem Titel „Home“ drehen, dem die heute am weitesten verbreitete Redeversion zugrunde liegt.
Für die einen ist die Rede selbst dann ein Ausdruck indianischen Umweltbewusstseins und eine Anklage gegen den übermächtigen Rohstoff- und Landhunger der weißen Zivilisation, wenn sie nicht echt ist, für die anderen gehört die „Rede“ in die Reihe der an Fälschungen nicht gerade armen Kolonisationsgeschichte oder in die Rubrik „Öko-Kitsch“. Dabei könnte man es belassen und vielleicht zugestehen, dass die in jeder Version vorgestellten Gedanken der Überlegung und der Kritik auch heute noch wert sind. Doch es bleibt eben nicht dabei. Man ist offensichtlich der Meinung, dass der eher schlichte Grabstein und die erst in den 70er Jahren hinzugefügte Holzskulptur in Gestalt traditioneller Kanus der Bedeutung des Häuptlings nicht mehr gerecht wird. Was die in der Neugestaltung befindliche Grabstätte vermittelt, lässt den Betrachter nachdenklich werden. Eine rotundenartige Einfassung aus Granit verkündet auf der Außenseite den Text einer Version der Seattle-Rede in der Umschrift der Suquamish-Sprache und in Englisch. So entsteht zunächst der Eindruck, dass hier eine Art sekundärer Authentifizierung stattfinden soll. Das zweifellos echte Grab des Häuptlings soll zum sichtbaren Beweis für die Echtheit der Rede herhalten.
Grabdenkmäler sind immer und vor allem ein Erinnerungsort und Zeugnis für die Lebenden. Der informierte Besucher aber weiß nicht, was er von dieser Erinnerungspflege halten soll. Handelt es sich um eine Art ironischer Geste, mit der die Suquamish-Nachfahren den Besuchern einen Häuptling präsentieren, von dem mancher ökologisch angehauchter Weiße wünschte, es hätte ihn gegeben? Dann handelte sich um ein sehr schönes Beispiel von „Fooling the White Man“. Oder wird hier seitens der katholischen Geistlichkeit eine religiöse Gedenkstätte inszeniert, mit der man versucht, die Zeitgenossen vermeintlich zeitgemäß anzusprechen? In beden Fällen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der beschauliche Friedhof und das erfolgreiche Kasino bald mehr miteinander zu tun haben, als es den Anschein hat.
Die Rede des Häuptling Seattle ist in zahlreichen Auflagen als illustrierte Broschüre im Walter-Verlag (Olten und Freiburg) unter dem Titel „Wir sind ein Teil der Erde“ erschienen. Eine Untersuchung der Authentizität dieser Rede-Version stellten Anna Pytlik und Rolf Gehlen in der Zeitschrift „natur“ (Heft 7/1984) unter dem Titel „Mit der Wahrheit auf Kriegsfuß“ vor.
Herbert Gruhl veröffentlichte seine natürlich authentische „Gegenrede“ ebenfalls 1984 im Erb-Verlag (Düsseldorf) und versuchte Zweifel an der Echtheit seiner Redefassung zu entkräften.