Liebe Leser*innen und Unterstützer*innen,

letzte Woche geriet die Situation der Indigenen weltweit in die Schlagzeilen, nachdem am 27. Mai 2021 in British Columbia die Überreste von 215 Kindern auf dem Gelände der ehemaligen Residential School in Kamloops entdeckt wurden und damit eines der dunkelsten Kapitel des Kolonialismus in Erinnerung riefen – der Versuch, die indigene Identität in den Internatsschulen auszurotten, welche die indigenen Kinder in Kanada und USA von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er Jahre zwangsweise besuchen mussten.

Coyote-Ausgabe 125 erschienenlink

Seit langem berichten wir in unserem Magazin COYOTE über die Geschichte und die Auswirkungen der Residential Schools (Kanada) oder Boarding Schools (USA) und das generationenübergreifende Trauma, unter dem die Indigenen bis heute zu leiden haben.

Letzte Woche haben wir die neueste Ausgabe des COYOTE verschickt, die sich jedoch (vor den Schlagzeilen aus British Columbia) im Schwerpunkt mit den jüngsten Entwicklungen nach der Präsidentschaftswahl in den USA auseinandersetzt, u.a. hinsichtlich der diversen Pipeline-Projekte. Ausführlich schildern wir auch die neuen Hoffnungen und Perspektiven, die mit der Ernennung von Deb Haaland als erster indigenen Innenministerin verbunden sind.

Zudem werfen wir einen Blick auf das zeitgenössische Kulturschaffen der Indigenen, u.a. mit der Vorstellung des Künstlers Cannupa Hanska und einer Untersuchung indigener Transgender-Literatur. In diesem Kontext möchten wir auch nochmals das Sachbuch „Highway der Tränen“ (siehe Flyer im Anhang) ans Herz legen, das detailliert die Gewalt an indigenen Frauen und Mädchen recherchiert hat und eine breite Leserschaft finden sollte, denn auch hier bildet das Trauma der Residential Schools den Hintergrund für die Vulnerabilität der Indigenen hinsichtlich des systemischen Rassismus.

Das Trauma der Residential Schoolslink

Als die Schlagzeilen der grausigen Funde auf dem Gelände der Residential School in Kamloops auch in Europa für Aufmerksamkeit sorgten, war ich offen gestanden überrascht, denn die Reaktionen könnten vermuten lassen, dass eines der grausigsten Kapitel des Völkermords in Kanada und den USA „plötzlich“ ans Licht der Öffentlichkeit geraten wäre. Doch seit Jahrzehnten versuchen die Indigenen, das Thema ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen und die Verantwortlichen zum Handeln zu bewegen. „Wir hatten immer gewusst, dass es diese anonymen Gräber gab, aber wir konnten es nicht beweisen“, erklärte Rosanne Casimir (Tk’emlúps te Secwe̓pemc First Nationlink-external) gegenüber dem Canadian Observer. Nun haben die Indigenen Gewissheit.

Als ich 2002 nach British Columbia reiste, um den Widerstand der Secwepemc gegen das Skigebiet von Sun Peaks zu unterstützen, besuchte ich mit einer der indigenen Aktivistinnen, Janice Billy, auch die Residential School in Kamloops – eben jenes Internat, das jetzt im Zentrum der Berichterstattung steht. Ich konnte damals nicht ahnen, dass ich über Massengräbern schreiten würde, doch die persönlichen Erfahrungen der Indigenen – Janice hatte selbst die Schule besucht und auch Art Manuel berichtete über das Trauma, die Schläge, den permanenten Hunger, sexuellen Missbrauch und die allgegenwärtigen Demütigungen – hinterließen einen tiefen Eindruck.

Es waren jene Erfahrungen, über die auch die Betroffenen während der Anhörungen der Truth and Reconciliation Commission (TRClink-external, 2008-2015) berichteten – einer Kommission, die auf jahrelanges Drängen der Indigenen die Geschichte und das Trauma eben jener Residential Schools aufarbeiten sollte. Erst durch die von 85.000 Betroffenen eingereichte umfangreichste juristische Sammelklage in der kanadischen Geschichte und dem außergerichtlichen Indian Residential School Settlement Agreement (IRSSAlink-external) war es den Indigenen gelungen, das Thema auf die politische Tagesordnung zu setzen. Rund 150.000 indigene Kinder mussten das System der Internatsschulen von 1879 bis 1996 durchlaufen – wie viele der Kinder nicht überlebten, ist bis heute nicht dokumentiert. Manche Schätzungen sprechen von bis zu 25.000 Todesfällen im Zusammenhang mit den Residential Schools. Doch bislang stießen diese Zahlen und Berichte auf mangelndes Interesse von Seiten der offiziellen Stellen.

Bis März 2016 wurde eine Kompensationszahlung von insgesamt 1.622.422.106 Can$ an 79.309 Betroffene ausgezahlt. Umgerechnet bedeutet dies eine peinliche Ablasszahlung der Regierung von 20.000 Dollar pro Person – und die Arbeit der TRC mussten die Indigenen auch noch selbst tragen! Doch damit nicht genug: 2008 „entschuldigte“ sich der damalige kanadische Premierminister Stephen Harper für das „vergangene“ Unrecht der Residential Schools, versuchte jedoch zugleich die Schuld auf die Kirchen abzuwälzen (insbesondere die katholische Kirche), welche im Auftrag der Regierung die Residential Schools im ganzen Land betrieben. Sein Nachfolger Justin Trudeau, der bei jeder Gelegenheit die besondere Beziehung und Versöhnung mit den indigenen Völkern wie ein Mantra im Mund führt, verfolgt nun die gleiche PR-Strategie. In seinen Äußerungen klang Trudeau so, als ob er zum ersten Mal mit der Dimension dieses Völkermords konfrontiert sei – und erneut versucht auch er, die Verantwortung auf die Kirche abzuschieben. Ja, die Priester und Nonnen habe diese Foltern und den sexuellen Missbrauch zu verantworten, aber sie handelten eben auch im Auftrag der Regierung. Es ist einfach zynisch, wenn Trudeau auf eine Entschuldigung von Papst Franziskus drängt und die eigene Verantwortung Kanadas herunterzuspielen versucht. Nur 50 Angeklagte in 38.000 Missbrauchsklagen wurden jemals verurteilt.

2015 legte die TRC ihren Abschlussbericht mit 94 Handlungsempfehlungen vor (Calls to Action), doch die kanadische Regierung ignoriert deren Umsetzungen bis heute. Die UN-Deklaration der Rechte der indigenen Völker (2007) ist bis heute im parlamentarischen Hickhack gefangen und nicht in kanadisches Recht umgesetzt. Vor allem befinden sich heute mehr Kinder im (weißen) „Fürsorgesystem“ als zu Zeiten der Residential Schools. So sind z.B. in Manitoba (übrigens einem der Zentren der Gewalt an indigenen Frauen und Mädchen) nach aktuellen Angaben des Children Family Services 90% der Kinder in Pflegeinrichtungen indigener Herkunft, obwohl die Indigenen nur 7% der Bevölkerung stellen.

Die Indigenen wollen die Überreste der Kinder nun umbetten und würdig beerdigen. In einer offiziellen Stellungnahme vom 03.06. (www.tkemlups.ca) erklärten die Tk’emlúps te Secweépemc, welche Hilfe sie benötigen. Vor allem fordern sie Respekt gegenüber den Familien, also keine vermeintlich gutmeinenden Aktionen ohne ihre Zustimmung. Das Wichtigste ist ihnen jedoch die Aufklärung der Öffentlichkeit, um die Regierung an ihre Verpflichtungen zu gemahnen.

Wir werden in der nächsten Coyote-Ausgabe ausführlich über die Hintergründe und die aktuelle Situation berichten, möchten jedoch darum bitten, den anhängenden Protestbrief an Premierminister Trudeau zu schicken.

Iinternationaler Peltier-Kampagnen-Monat Juni 2021link

Seit 45 Jahren ist der Aktivist und politische Gefangene Leonard Peltier in Haft – derzeit im Hochsicherheitsgefängnis von Coleman, Florida. Nachdem alle früheren Bemühungen, eine Begnadigung durch US-Präsidenten zu erwirken, und selbst die Initiativen, Peltier in ein Gefängnis niedrigerer Sicherheitsstufe in der Nähe seiner Familie oder in Hausarrest zu verlegen, scheiterten, schöpften wir Anfang des Jahres neue Hoffnung für den schwerkranken Gefangenen. Doch dann folgte (einmal mehr) die Enttäuschung. Die aktuelle Ausgabe des COYOTE berichtet über die jüngsten Entwicklungen (auch nachzulesen unter https://www.leonardpeltier.de/8128-newsletter-1-2021).link-external

Im Juni findet eine weltweiter Kampagnen-Monat für Leonard Peltier statt. Unsere Partnerorganisation Tokata-LPSG RheinMain e. V. beschloss daher, eine Postkarten-Aktion unter der Patenschaft der European Alliance for the Self-determination of Indigenous Peoples, zu der auch die Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte zählt, durchzuführen. An der Kampagne beteiligen sich Gruppen aus Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz sowie aus Italien, Spanien, USA und Kanada.

In Deutschland wird die Postkarte u.a. als Beilage in den Abo-Auflagen der jungenWelt (Auflage 18.500) und der taz (Auflage maximal 29.000, mindestens 12.000) sowie des COYOTE-Magazins erscheinen. In der Schweiz wird Incomindioslink-external diese Karte auch im Rahmen einer Spendenaktion für Peltier einsetzen. Derzeit sind 37.000 Karten im Druckauftrag und falls weitere Spenden akquiriert werden, können weitere 18.000 gedruckt werden. Selbst wenn „nur“ 10% das Weiße Haus erreichen, so würde dies enorme Aufmerksamkeit generieren.

Informationen zu einzelnen Aktionen wie Mahnwachen, Lesetour „Ein Leben für die Freiheit – Leonard Peltier und der indianische Widerstand“ sowie Bestellungen der Postkarten (siehe Anhang) und Spenden: www.leonardpeltier.delink-external

Alaska – Widersprüchliche Signale aus dem weißen Hauslink

Seit Jahren wehren sich Indigene und Umweltschützer gegen die Pläne, in der empfindsamen Region Alaskas Öl und Gas zu fördern. Ins Zentrum des Konflikts geriet insbesondere das Arctic National Wildlife Refugelink-external. Im August 2020 hatte die Gwitch’in Nation gemeinsam mit Umweltorganisationen gegen die Öffnung des ANWR für die Ressourcengewinnung geklagt, die vom früheren Präsidenten Trump vorangetrieben wurde. Noch im Januar hatte das zuständige Bureau of Land Management Förderlizenzen für rund 2.000 Quadratkilometer der Coastal Plains versteigert.

Doch Präsident Biden verhängte bereits im Januar 2021 am ersten Tag im Amt per Präsidentenerlass ein Fördermoratorium. Am 1. Juni 2021 setzte Biden nun alle Lizenzen aus und verfügte eine neue Umweltstudie, welche die „Umweltanalyse“ unter Trump aufhob.

Die Indigenen hatten gehofft, dass Biden sich zu einem endgültigen Verbot der Öl-und Gasförderung in der Arktis durchringen würde, doch diese Hoffnungen wurden enttäuscht.

Noch im Mai 2021 hatte Biden ein weiteres Projekt in der Arktis genehmigt. Das Willow-Projekt von Conoco-Phillips will im nordöstlichen Teil des National Petroleum Reserve in den nächsten drei Jahrzehnten 600 Millionen Barrel Öl fördern. Trump hatte das Projekt im Oktober 2020 genehmigt und Alaskas Unterstützung gewonnen. Die betroffenen Inupiat der Region hatten bereits gegen das Projekt vor Gericht geklagt und werden sich weiterhin gegen das Willow Project wehren, gegen das sich die jetzige Innenministerin Deb Haaland selbst noch im letzten Jahr ausgesprochen hatte.

Weitere Versicherung steigt bei der Transmountain Pipeline auslink

Als Kanada die Trans Mountain Pipeline 2018 kaufte, ahnte die Regierung wohl nicht, auf welche Widerstände sie stoßen würde. Die Pipeline, welche Teersandöl von Alberta an die Pazifikküste British Columbias transportieren soll, gerät zunehmend in Schwierigkeiten. Neben einem temporären Baustopp muss sich das Projekt mit schwindenden Investoren auseinandersetzen – ein Erfolg der weltweiten Divest-Kampagnen, welche Banken und Versicherungen drängen, aus Projekten fossiler Energienutzung auszusteigen.

Nachdem sich bereits einige Versicherungen aus dem Projekt zurückgezogen haben, hat nun auch die Argo Group, ein Unternehmen der Lloyd‘s-Versicherungsgruppe erklärt, zum 31. August 2021 aus der Trans-Mountain-Pipeline auszusteigen.

Spendenkampagne für Thomas Yellow Hair erfolgreichlink

Im letzten Newsletter hatten wir um Spenden gebeten, um die Überführung von Thomas Yellow Hair (Oglala Lakotalink-external) aus Finnland nach Pine Ridgelink-external zu finanzieren. Der ehemalige AIMlink-external-Aktivist war vor kurzem in Helsinki gestorben und sein letzter Wille war es, bei seiner Familie begraben zu werden. Dank der großzügigen Unterstützung – auch von Euch – konnte die Zielsumme von 15.000 $ erreicht werden, so dass die Familie nun Thomas nachhause holen kann. De Familie Yellow Hair möchte ausdrücklich ihren Dank für die Unterstützung ausdrücken.

In Solidarität mit den indigenen Völkern

Monika Seiller
Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte e.V.
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D-80807 München

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Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte e.V. (AGIM) ist ein gemeinnütziger Verein (gegr. 1986) zur Unterstützung der Rechte der indigenen Völker Nordamerikas und Herausgeberin des Magazins COYOTE.

AGIM e.V. (Action Group for Indigenous and Human Rights, est. 1986) is a non-profit human rights organization dedicated to supporting the right to self-determination of Indigenous peoples in North America. We publish a quarterly magazine COYOTE.

Bankverbindung: IBAN DE28 7015 0000 0017 2234 70 / BIC: SSKMDEMM / Stadtsparkasse München

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