Am 27. Februar 2023 jährte sich der Beginn der Besetzung von Wounded Knee zum 50. Mal. 71 Tage harrten rund 200 Indigene mit Unterstützung des American Indian Movement 1973 an dem geschichtsträchtigen Ort des Massakers von 1890 aus, um gegen die anhaltende Diskriminierung und die Missachtung der indigenen (Vertrags-) Rechte sowie die korrupte Stammesregierung von Dick Wilson (samt eigener Schlägertruppe) zu protestieren. 2016 versammelten sich Zehntausende in Standing Rock. Erneut war South Dakota in den Schlagzeilen — und der Grund für die Proteste war immer noch derselbe: indigene Rechte werden missachtet, um mit ihrem Land Profit zu machen. Damals ging es u.a. um Uran, fünf Jahrzehnte später geht es vor allem um Öl und Pipelines. Nach Standing Rock kamen Aktivisten und Unterstützer aus der ganzen Welt — 1973 waren die Indigenen auf sich gestellt. Doch ein junger amerikanischer Photojournalist, Kevin McKiernan, war mitten unter ihnen. 2019 erschien seine Dokumentation über die damaligen Ereignisse und ihre Folgen.
Das American Indian Movement wurde 1969 von jungen indigenen Aktivisten, u.a. Dennis Banks und Clyde Bellecourt, in Minneapolis gegründet, der Heimatstadt von McKiernan. Damals waren die Lebensbedingungen der Indigenen miserabel – Rassismus in den Städten, Polizeiwillkür, Armut. Auf dem verbliebenen Land und in den Reservaten herrschten dieselben Probleme. Die Doku zeigt Archivaufnahmen der Pine Ridge Reservation von 1973 und kontrastiert sie mit Aufnahmen von 2019, die nur wenige Unterschiede erkennen lassen — Autowracks, kaputte Häuser, Armut. Und doch hat sich vieles seit 1973 geändert. “Wir sind stolz darauf, wer wir sind”, verkündet ein junger Indigener am Ende der Doku heute. Damals mussten die Indigenen sich den Weg zu ihren Wurzeln erst wieder erkämpfen.
Der Titel der Dokumentation ist ein wenig irreführend, denn um Standing Rock und die Gegenwart des Widerstands geht es nur in den letzten rund 15 Minuten, aber für die Promotion war dies natürlich geschickt, denn von Standing Rock und dem Kampf gegen die Dakota Access Pipeline hatte zur Zeit der Entstehung der Doku wirklich jeder gehört — die Bilder vom brutalen Einsatz von Polizei und privaten Sicherheitsdiensten gegen die unbewaffneten Aktivisten gingen um die ganze Welt.
Das hatte nicht nur mit der vergifteten Atmosphäre unter Präsident Trump und der Polizeigewalt zu tun, sondern vor allem mit der massenhaften Präsenz der internationalen Presse und den Möglichkeiten der sozialen Medien, welche den Aktivisten erlaubten, rund um die Uhr aktuelle Updates und Videoaufnahmen zu senden. 1973 herrschte eine völlig andere Situation.
Die Autorin dieser Zeilen kann sich zwar an einige Bilder von Wounded Knee in der Tagesschau erinnern, denn es war tatsächlich ein außergewöhnliches Ereignis, dass Indianer “leibhaftig” gegen die Politik der USA aufbegehrten (was aber gleichzeitig ins Bild der Anti-Vietnam-Proteste passte), doch von einer ausführlichen Berichterstattung konnte keine Rede sein. Das lag nicht nur an den damaligen begrenzten technischen Möglichkeiten, sondern war vor allem der Politik des herbeigerufenen FBI geschuldet, das Wounded Knee hermetisch gegen die Presse abriegelte. Man wollte keine Kameras dabeihaben, wenn US-Marshals, FBI und Militär mit Helikoptern und Sturmgewehren gegen ein paar schlecht bewaffnete Indigene “in den Krieg” zogen. Die Medien wurden erst wieder zugelassen, als die Regierung die Besetzer am Ende verhaften und vor Gericht stellen ließ. Die vermeintliche Ordnung war damit wiederhergestellt, und das wollte man der Welt gerne als Erfolg präsentieren. Die USA hatten die Indianer wieder einmal besiegt, sollte die Botschaft lauten.
Doch da war dieser 29-jährige Photograph, der gelegentlich für lokale Fernsehsender arbeitete. Nachdem das FBI der Presse den Zugang zu Wounded Knee verweigert hatte, schlich er sich nachts in Begleitung einiger Lakota auf das besetzte Gelände und blieb für sieben Wochen bei den indigenen Aktivisten. So manches Mal geriet er dabei gefährlich nahe in die Schusslinie von FBI und Militär. Währenddessen teilte er das Schicksal der Indigenen — kaum Nahrung, ständige Gefahr und eine unsichere Perspektive.
Der Einsatz hat sich gelohnt, denn die Doku bietet einzigartige Aufnahmen vom Leben hinter den Fronten. Darunter sind auch die Filmaufnahmen der Hochzeit von Anna Mae Pictou, einer Mik’maq, mit Nogeeshik Aquash, einem Ojibwe, die sich in Wounded Knee in einer indianischen Zeremonie während der Belagerung durch das FBI trauen ließen. Inmitten der schwierigen Lage zeigen die Aufnahmen alltägliche Szenen — von Beratungen, Essensverteilung bis hin zum freudigen Ereignis eines Neugeborenen. Sie zeigen Indigene, die sich zu einer Gemeinschaft zusammenfinden, um zu den Wurzeln ihrer Identität zurückzukehren und sich von der Unterdrückung und Gehirnwäsche durch die US-Politik (Massaker, Landraub, Indian Boarding Schools und Terminationspolitik) zu emanzipieren. Aber besonders eindrücklich sind natürlich die Szenen, in denen es Verwundete zu versorgen oder Tote zu betrauern gilt —- Frank Clearwater, Buddy La Monte.
Die Doku zeichnet auch die weitere Entwicklung nach dem Ende der Besetzung von Wounded Knee nach – das Leben der Lakota unter dem “Reign of Terror”. In den nachfolgenden Jahren explodierte die Zahl der Morde an Indigenen in South Dakota. McKiernan war auch hier zur Stelle. Die Nacht vor dem “Shoot-out” auf der Jumping Bull Ranch am 26. Juni 1975, bei der zwei FBI-Leute und ein Indigener getötet wurden, hatte der Photograph im Haus der Jumping Bulls zugebracht. Als er von dem Zwischenfall erfuhr, eilte er sofort zurück. Und natürlich kannte und photographierte er auch Leonard Peltier, der des Mordes an den FBI-Leuten angeklagt, gejagt und schließlich verurteilt wurde – seit Jahrzehnten fordern Menschenrechtsaktivisten seine Freilassung, denn die Beweise waren gefälscht und Zeugenaussagen erzwungen. Auch diese Geschichte erzählt die Doku.
In den Nachwehen der Ereignisse kam es zu massiven Einschüchterungen und vor allem der Unterwanderung des American Indian Movement im Zuge des Cointelpro (Counter-Intelligence Program) — einer Maßnahme, die auch gegen die Black Panther eingesetzt wurde. Informanten infiltrierten die Führungsebene des American Indian Movement und schürten vor allem das gegenseitige Misstrauen. Anna Mae Aquash, deren Leichnam im Februar 1976 auf der Pine Ridge Reservation entdeckt wurde, zählt zu den Opfern dieser später als rechtswidrig erklärten Strategie.
McKiernan bietet in seiner Doku nicht nur eine unbekannte Fülle an Archivaufnahmen, sondern auch Interviews mit allen Beteiligten — von Dennis Banks über Myrtle Poor Bear, die vom FBI zu einer Falschaussage gegen Peltier gezwungen wurde, bis zu Verantwortlichen von FBI und Justiz. Trotz des harten Vorgehens gegen das American Indian Movement konnten die Indigenen in den Folgejahren eine ganze Reihe an Gesetzen erstreiten, die ihre Rechte stärkten: “Indian Self-Determination Act”, “Indian Education Act”, “Indian Religious Freedom Act” etc. Es war die Zeit der Indian Survival Schools und bei allen Rückschlägen auch der Rückbesinnung auf ihre Identität. Vor allem begannen sie neues Selbstbewusstsein zu entwickeln — “Proud to be an Indian” war nicht mehr nur ein hohler Slogan. “Verloren haben die US-Regierung und das American Indian Movement”; resümiert McKiernan, “aber gewonnen haben die Indianer”.
Dieses Erbe prägte eine neue Generation an Indigenen, die sich mit neuem Selbstbewusstsein nicht nur gegen die Missachtung ihrer Rechte stemmen, sondern längst eigene Wege beschreiten. Mehr und mehr Indigene entwickeln wieder eigene Nahrungsangebote, bauen Solar- und Windenergie aus und unterrichten ihre Kinder in ihren eigenen Sprachen. Wounded Knee war ein wichtiger Meilenstein in dieser Entwicklung.
Monika Seiller
“From Wounded Knee to Standing Rock”
USA 2019
Regie: Kevin McKiernan, 88 Minuten, englisch
Die DVD ist für 25$ hier erhältlich .