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Was dann, wenn kein Völkermord?

Carlisle Boarding School 1890 Todesursachen - Zwangsbeschulung und TB
von Dionys Zink
(veröffentlicht 2/2007)

Neueste Recherchen haben ergeben, dass zwischen 1874 und den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mehr als 50.000 indianische Kinder in Kanada Opfer einer verfehlten bzw. gezielten Assimilationspolitik geworden sind.

Dieses erschütternde Ergebnis wurde erst im letzten April publik, obwohl es auch in der Vergangenheit überdeutliche Hinweise auf eine sehr große Zahl von Opfern des Internatsschulsystems gegeben hatte. Unmittelbare Ursache war bei den meisten Todesfällen eine Tuberkuloseerkrankung.

Bereits 1907 machten Ärzte, welche die Schulen und Heime besuchten auf die Probleme aufmerksam, die sich ergeben, wenn man hunderte von Kindern in enge Schlafsäle pfercht ohne vorher bei der Aufnahme der Kinder zu untersuchen, ob sie auch gesund sind. Wegen der Pro-Kopf- Unterstützung des Staates machte sich auch niemand in den kirchlich betriebenen Schulen die Mühe kranke von gesunden Kindern zu trennen.

Wie die Globe and Mail, Kanadas größte Tageszeitung herausfand, teilte 1909 ein Beamter des zuständigen Indianerministeriums über die Bedingungen in der Duck Lake Reservation in Saskatchewan mit: „Das Ministerium sollte zur Kenntnis nehmen, dass etwa die Hälfte der Kinder, die zur Internatsschule nach Duck Lake geschickt werden vor ihrem 18. Lebensjahr oder kurz danach stirbt.“ In manchen Schulen des westlichen Kanada erreichten die Sterberaten bis zu 69%.

Auch die Wahrnehmung der Offiziellen in Ottawa änderte nichts an diese Zuständen. 1914 stellte Duncan Campbell Scott, ein hochrangiger Indian Affairs-Beamter fest: „Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass 50% der Kinder, die durch diese Schulen gegangen sind, nicht lange genug leben, um von den dort empfangenen Wohltaten profitieren zu können.“ Doch diese Erkenntnisse blieben folgenlos, weil man fürchtete, die Kirchen könnten die Verantwortung für die indianischen Kinder an den Staat zurückgeben. Zugleich versuchten die Kirchenoffiziellen immer wieder und immer wieder vergeblich die kanadische Bundesregierung zur Aufstockung der Mittel für die Internatsschulen zu bewegen. Die Regierung stellte sich taub.

Indian Training School Spätestens 1930 war klar, dass Tuberkulose die Hauptursache für die zahlreichen Todesfälle war, denn sie erfasste auch viele weiße Kanadier. Die kanadische Regierung erklärte dennoch, dass sie wegen knapper Haushaltsmittel die Überstellung von Kindern mit Tuberkulose in ein Sanatorium oder ein Krankenhaus nicht gestatten könne, „ es sei denn, der Patient benötige Pflege zur Linderung des Leidens.“ Doch auch Influenza, Tod durch Erfrieren und psychische Traumatisierungen gehören zu den Gründen für den vorzeitigen Tod vieler Indianerkinder.

Überlebende des Systems aus den 30er Jahren gibt es nahezu nicht mehr, doch auch in späteren Jahrzehnten waren Todesfälle keine Seltenheit. Indianer, die über 60 Jahre alt sind erinnern sich an sterbende Bettnachbarn und monatlich stattfindende Beerdigungen. Nach Aussagen von Augenzeugen wurden die toten Kinder oftmals an ungekennzeichneten Plätzen im Umkreis der Schulen und aus Kostengründen zu mehreren verscharrt, so dass man heute genaue Zahlen nicht mehr ermitteln kann.

Aufschlussreich ist die Art und Weise wie in Kanada mit den Informationen über diesen Sachverhalt umgegangen wird. Die Akten und der Schriftverkehr zwischen Kirchen, Behörden und Ärzten werden bis heute unter Verschluss gehalten. Nur zu Forschungszwecken wird Einsicht gewährt. So dauerte es bis 1996 im Zuge der Nachforschungen der Royal Commission on Aborginal People (RCAP), die nach dem Mohawk Aufstand von Oka 1990 eingesetzt wurde, bis zumindest Bruchstücke das Licht der breiteren Öffentlichkeit erreichten.
Regierungskritische Stimmen, wie etwa Kevin Annett, ein ehemaliger Geistlicher der United Church, sprechen von Völkermord, eine Bezeichnung für die Katastrophe, die von regierungsnahen Experten zurückgewiesen wird. „Die Absicht war, die Indianer als kulturell verschiedene Gruppe auszumerzen“, meint Prof. Milloy von der Trent University, der für die RCAP tätig war. „Wenn Völkermord etwas damit zu tun hat, die Kultur anderer Völker zu zerstören, dann war dies völkermordartig, kein Zweifel. Aber hier von völkermordartigen Vorstellungen zu reden, bedeutet das System misszuverstehen.“ Milloy scheint dabei zu übersehen, dass in der Konsequenz für die überlebenden Betroffenen wohl kaum ein Unterschied bestehen dürfte, zwischen der beabsichtigten systematischen Zerstörung einer Kultur infolge des massenhaft billigend in Kauf genommenen Todes von Kindern und der unmittelbaren Vernichtung dieser Kinder.

Vorher.... und nachher. Noch spitzfindiger und menschenverachtender argumentieren die Juristen, die in diesem Zusammenhang den Begriff Völkermord nur deswegen ablehnen, weil das kanadische Gesetz zu der Zeit, als diese Schulen in Betrieb waren, den Begriff „Völkermord“ nicht umfasste. Mit dieser positivistischen Rechtsauffassung ließe sich dann in Kanada jeglicher Völkermord leugnen.

So verwundert es dann auch nicht, dass sich mittlerweile Organisationen gegründet haben, die darauf bestehen, dass sich Ottawa zu seiner historischen Schul bekennt. Denn während die Opfer der zahlreichen Fälle von sexuellem Missbrauch in den kommenden Monaten wenigstens mit einer außergerichtlichen Klärung ihrer Schadensersatzansprüche rechnen können, ist nicht einmal von Versuchen zur Wiedergutmachung wenigstens bei den Überlebenden die Rede. Die Organisation, die sich „Friends of the Disappeared“ (Freunde der Verschwundenen) nennt kündigte Aktionen an, um die Bundesregierung zu einem Engagement zu bewegen. Der Minister für indianische Angelegenheiten Jim Prentice soll immerhin schon den Auftrag erteilt haben, nach Kindergräbern zu suchen.

Tuberkulose tritt auch heute noch immer wieder in indianischen Reservaten auf. Beispielsweise bei den Lubicon Cree in den 80er Jahren in Alberta. Die Ursache ist die nach wie vor die gleiche: unzureichende Wohn- und Hygieneverhältnisse, ja nicht einmal der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Den Nachweis der (verkapselten) Infektion des Verfassers erbrachte übrigens ein recht erstaunter Mitarbeiter des Münchener Gesundheitsamts.

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Sonntag, 22. März 2020 09:49:11 CET von oliver. (Version 2)

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