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Tommy Orange: Dort Dort

Dort Dort (Cover: Hanser Berlin) Überzeugendes Romandebüt: Tommy Oranges Roman ”Dort Dort“

Der leicht befremdliche Titel des Romans geht auf eine Aussage der amerikanischen Autorin Gertrude Stein über ihren Kindheitsort Oakland zurück, der auch der Schauplatz des Romandebüts „Dort Dort“ von Tommy Orange ist. Die etwas schmuddelige Schwesterstadt von San Francisco, wie diese an der Bucht von San Francisco gelegen, galt lange Zeit eher als eine Art gesichtsloser, sich ständig verändernder Unort, nach Gertrude Stein eben ein „Dort“, das kein „Dort“ mehr ist, weil ihm bedeutende Geschichte und auch der Glanz einer Gegenwart fehlen. Schon immer war die größte Hafenstadt an der Bay zweigeteilt: in den höher gelegenen Stadtteilen leben die wohlhabenden Bürger der Stadt. In den Ebenen an der Küste dagegen, in East und West Oakland, konzentrieren sich die Problemviertel, in denen weiße Amerikaner die Minderheit, wenn nicht sogar die Ausnahme sind. Laut Statistik leben etwa 6000 amerikanische Ureinwohner in Oakland; zum Vergleich: im nahen, etwa doppelt so großen San Fransciso sind es nur etwa 4000.

Oranges programmatisches Vorwort und auch eingefügtes Zwischenkapitel zur eigentlichen Geschichte sind so etwas wie schriftliche Erklärvideos zum eigentlichen Roman, mit denen auch der weniger mit der kulturellen Realität heutiger amerikanischer Ureinwohner vertraute Leser zumindest eine Vorstellung von den Bedingungen und zumeist eben Widrigkeiten dieser Realität entwickeln kann.

Die zentralen Figuren dieses multiperspektivisch erzählten Romans repräsentieren die Kindergeneration der Ureinwohner, die in den sechziger und siebziger Jahren aus dem Schatten der Großstädte traten und mit spektakulären Protestaktionen, wie etwa der Besetzung der Gefängnisinsel Alcatraz auf sich aufmerksam machten.
In einer Porträtserie werden die Hauptfiguren eingeführt. Herausragend ist dabei die Figur des Tony Loneman, ein junger Mann, der infolge des Fötalen Alkohol Syndroms (FAS) entstellte Gesichtszüge und verminderte Intelligenz aufweist und so etwas wie den dunklen Einfaltspinsel der Geschichte darstellt. Sein Erscheinungsbild macht ihn zur Randfigur innerhalb einer marginalisierten Gruppe. Der harmlose Grundton seiner Erzählung von den ganz und gar nicht harmlosen Begebenheiten erzeugt die Spannung für einen fulminanten Höhe und Schlusspunkt.

Hinzu treten noch weitere Außenseiter innerhalb der Gruppe der ohnehin Nicht-Dazugehörigen. Da ist Dene Oxendene, ein junger Mann, dessen alkoholbedingt sterbender Onkel ihm eine Kamera und die Idee zu einem Dokumentarfilm vermacht. Opal Bear Shield, ihre ältere Schwester Jacquie und der Drogendealer Octavio Gomez, alle blicken sie auf eine zerstörte Kindheit zurück, als ihre entwurzelten Familien in Oakland und anderen amerikanischen Großstädten nach einem Halt suchten. Ihre Gemeinsamkeit ist demnach die multigenerationelle Verstrickung in etwas, wofür der Ausdruck Patchwork-Familie zwar erfunden, aber in diesem Fall völlig unzureichend ist. Und zufällig sind fast alle indianischen Protagonisten des Romans Angehörige der Cheyenne und Arapaho Tribes, deren heutige Reservation sich in Oklahoma befindet und zu der die Figuren kaum eine Beziehung haben. Im Vorwort erteilt Orange diesem Identitätskonzept denn auch eine Absage: „Indianer zu sein, hatte nie etwas mit der Rückkehr auf das angestammte Land zu tun. Das Land ist überall oder nirgendwo“.

Tommy Orange 2018 (Foto: Larry D. Moore CC BY-SA 4.0) Die Handlung führt alle Figuren auf einen großen Showdown am Schluss zusammen. Bei einem großen Powwow in Oakland sind hohe Preisgelder für die Tänzer ausgelobt worden, die am Ende an die Sieger der Wettbewerbe ausgezahlt werden sollen. Eine Drogengang, in die auch Cheyenne verstrickt sind, will diese Preisgelder mit Waffengewalt an sich bringen.

Letztendlich stellt Oranges Roman die alte und dennoch immer wieder aktuelle Frage nach der indianischen Identität. Er ist eine Absage an die fremden Zuschreibungen, die amerikanische Ureinwohner in Schubladen, Bücher, Filmen und Datenverzeichnissen kategorisieren und dabei versichern, der jeweils alte oder neue Stereotyp sei jetzt endgültig der echte Indianer. Doch für den Leser von „Dort Dort“ bleibt dabei die Identitätsfrage unbeantwortet. Wenn es keine noch so brüchige oder widersprüchliche Rückbindung an die Ureinwohnergesellschaften der Reservate und ihre kulturellen Ausdrucksformen gibt, und auch keine Identifikation mit den Widerstandshaltungen und –aktivitäten der vorangegangenen ersten Generation der Urban Indians, dann bleibt am Schluss, womöglich folgerichtig, nur die genetische Option: Indianer ist, wer einen gewissen - und auch wieder fremdbestimmten – Anteil „Indianerbluts“ in sich trägt.

Dass man damit der sozialen Realität auch der heutigen Stadtindianer nicht gerecht wird, muss der Verfasser Tommy Orange mit seiner eigenen Familie erleben. In der Autorenlesung im Münchener Literaturhaus erzählt er von seinen Bemühungen, seinen eigenen Sohn in die Tribal Roll, das Mitgliederverzeichnis der Cheyenne and Arapaho Tribes, eintragen zu lassen. Die komplizierten Statuten des Stammes fordern, dass ein eingetragenes Mitglied zumindest zu einem Viertel indianischer Abstammung sein muss. Die komplizierte Familiengeschichte seiner Vorfahren macht aus Tommy Oranges Sohn einen Menschen, dem nur wenige Prozent zur Anerkennung seiner indianischen Abstammung fehlen.

Die andere Seite der Geschichte muss natürlich ergänzt werden. Die Stammesregierungen und -verwaltungen versuchen mit der restriktiven Enrollment policy zu verhindern, dass die Bevölkerungszahlen explodieren. In Zeiten des allgemeinen Niedergangs strukturell schwacher Regionen in den USA, zu denen die Indianerreservationen fast ausnahmslos zu rechnen sind, können die mit dem Rechtsstatus als anerkannter Ureinwohner verbundenen Leistungen, zum Beispiel des Indian Health Service, nicht freigiebig gehandhabt werden, weil die finanziellen Mittel dafür fehlen oder in den letzten Jahren sogar gekürzt wurden.

All dies birgt natürlich eine weitere, bitte Ironie der Geschichte. Während Indianer über die längste Zeit im 20. Jahrhundert versuchten, ihre Herkunft zu verbergen, um rassistischen Vorurteilen und Alltagsdiskriminierung zu entgehen, wendet sich die Diskriminierung innerhalb der indianischen Communities gegen jene, die versuchten dem Reservationselend zu entkommen, indem sie sich an den urbanen Lebensstil der weißen Mehrheitsgesellschaft anzupassen versuchten.

„Dort Dort“ von Tommy Orange ist im Verlag Hanser Berlin erschienen, umfasst 287 Seiten und kostet 22,00 €. Die deutsche Übersetzung besorgte Hannes Meyer.

Indianer

„Wir sind Indianer und eingeborene Amerikaner, amerikanische Indianer und indigene amerikanische Indianer, nordamerikanische Indianer, Eingeborene, NDNs und In’ianer, Status-Indianer und Nicht-Status-Indianer, First Nations Indianer und Indianer, die so indianisch sind, dass wir entweder jeden einzelnen Tag an diese Tatsache denken oder niemals überhaupt darüber nachdenken.

Wir sind Stadtindianer und indigene Indianer, Reservatsindianer und Indianer aus Mexiko und Mittel- und Südamerika. Wir sind Alaskas eingeborene Indianer, hawaiianische Ureinwohner und europäische Auslandsindianer, Indianer zusammengesetzt aus acht verschiedenen Stammeszugehörigkeiten, die aber jeweils einen Viertel Abstammungsanteilnachweis verlangen, so dass wir keiner staatlich anerkannten Indianersorte angehören.
Wir sind eingeschriebene Stammesmitglieder und ausgetragene Ex-Mitglieder, unberechtigte Mitglieder und Stammesratsmitglieder.

Wir sind Vollblut-, Halbblut-, Viertelblut-, Achtel-, Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Indianer. Unlösbare Rechenkunststücke. Bedeutungsloser Restbestand.“
(Tommy Orange: „Dort Dort“, eigene Übersetzung)


Eine Autorenlesung – Tommy Orange im Münchener Literaturhaus

Ein wenig überrascht ist der Rezensent schon: die Autorenlesung im Literaturhaus zu München am 13. September ist gut besucht, ja fast ausverkauft. Mehr als zweihundert mittelalte Leserinnen und Leser drängen sich im Saal. Aktuelle und bekannte Schriftsteller deutscher Sprache versammeln zu ihren Lesungen am selben Ort oft eine wesentlich kleinere Interessentenschar, ganz zu schweigen von kulturellen Veranstaltungen zum Thema Indianer andernorts in München, wenn sie einen etwas anderen inhaltlichen Schwerpunkt als die Vorstellung eines Romans verfolgen.
Es scheint also etwas dran zu sein, an der These, dass sich Autorenlesungen in den letzten Jahren zu regelrechten „Book Events“ entwickelt haben, die auch ein größeres Publikum anziehen können. Sicher zum Erfolg beigetragen hat auch die Mitwirkung des bekannten Hörbuch- und Synchronsprechers Christian Brückner, vielen bekannt als die deutsche Stimme von Robert de Niro, dessen Münchener Vortrag von Passagen aus der deutschen Romanübersetzung von „There There“ nicht anders als hinreißend auf den Besucher wirkt und dies selbst dann, wenn die bemühte Übersetzung im Detail eben doch verrät, dass Vertrautheit mit der indianischen Realität vielleicht nicht zwingend zur qualitativen Verbesserung führt, aber zumindest die Chance dazu bieten würde. Übereinstimmend stellten die Besucher dann fest, dass man auf etwas mehr vorgetragenen Originaltext gehofft hatte. Einmal mehr zeigte sich das Problem bei der Regie derartiger Veranstaltungen: In der Annahme, dass das Publikum einer, wenn auch gerafften, Übersetzung von Gesprächsanteilen oder im Original vorgetragenen Textpassagen bedarf, fallen die Vortragsanteile etwas zu kurz aus, will man die Lesung nicht über Gebühr in die Länge ziehen.

Ähnliches gilt auch für die Moderation des Abends. Natürlich ist auch der naive Zugang eines wenig informierten Lesers eine Möglichkeit, sich mit dem Roman und seinem Autor auseinanderzusetzen, vor allem dann, wenn man sich nicht in Insiderwissen verlieren und auch den bloß interessierten aber eben auch unbedarften Zuhörer mitnehmen will. Eine Begegnung mit einem noch aktuellen, relativ jungen indianischen Autor mit Lektüre- und Filmreminiszenzen auf Winnetou-Niveau aus der eigenen Jugendzeit anzureichern und dann Erstaunen zu äußern, ob der Differenz zwischen der eigenen Bewusstseinslage und des im Roman vermittelten Realitätsgehalts, ist aber dann doch eher schwach.

Aber auch die eigene Rolle und Vita als Indianerunterstützer wird einem dabei schmerzlich bewusst, weil man die mit erarbeiteten Fortschritte bei der Veränderung des öffentlichen Bewusstseins in Bezug auf Indianer wieder einmal deutlich überschätzt hat. Am Ende der Veranstaltung hätte man laut ausrufen mögen: Seit den 70er Jahren arbeiten Organisationen in ganz Europa und ganz besonders im deutschsprachigen Raum an der Korrektur und Vervollständigung einseitiger Klischeevorstellungen über Indianer. Gibt es eigentlich Zeitschriften, Videos, Filme und Internet?

Ernüchtert sitzt der Rezensent dann am Ende des Abends mit den Protagonisten desselben in einer geselligen Runde zusammen. Nur der freundliche Repräsentant des Verlags und die auch im Gespräch sympathischen Tommy Orange und Christian Brückner merken, dass zu dieser Autorenlesung noch einiges anzumerken gewesen wäre.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Dienstag, 28. Januar 2020 10:53:06 CET von oliver. (Version 12)