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Tomas King: Medicine River

Medicine River (Cover: A1 Verlag 2008) Wie konstruiert sich Identität?link


Thomas Kings Roman „Medicine River“ erschien zwar bereits 1989, brauchte aber nun überraschenderweise zwei Jahrzehnte, bis er endlich in deutscher Übersetzung erschien, obwohl es sogar inzwischen eine Verfilmung aus dem Jahr 1992 gab, in der immerhin einer der besten indianischen Schauspieler die Hauptrolle übernahm: Graham Greene.


Wer eine der üblichen Geschichten mit Anfang, Entwicklung des Plots und Ende erwartet, wird enttäuscht werden, denn „Medicine River“ ist eine Augenblicksaufnahme, ein Ausschnitt in einem Prozess der Selbstfindung, die naturgemäß weder Anfang noch Ende kennt. Zudem, so viel sei vorweg gesagt, gibt es weder große Umbrüche, Katastrophen, plötzliche Erkenntnisse oder eine Katharsis. Aber, wie heißt es so schön, so ist das Leben nun mal.
Der Roman begleitet Will auf seine unfreiwillige Reise in die Vergangenheit, zu der er längst alle Brücken abgebrochen hat. Natürlich flammt manche Erinnerung dann und wann auf, doch die Schauplätze der eigenen Geschichte hat er längst mit denen vor seiner Kamera vertauscht.

Ein Photograph muss den Blick der Distanz beherrschen, sonst verschwimmt das Bild. Einmal aus dieser sicheren Position herausgerissen, kommen die vertrauten Gewissheiten ins Wanken. Ein schlichtes „Weiter so“ erscheint auf einmal unmöglich – und Will wehrt sich nicht einmal mehr, er lässt das Leben mit sich geschehen.

Will, ein Blackfoot aus Medicine River im Westen Kanadas, ist in Calgary aufgewachsen und arbeitet inzwischen in Toronto als erfolgreicher Photograph. Neben einer gescheiterten Ehe gibt es noch eine wenig hoffnungsvolle Beziehung zu einer verheirateten Frau. Stets bleibt er irgendwie der Betrachter, der sich nie ganz der Nähe zu öffnen vermag. Dann kommt ein Anruf aus dem Reservat und damit die Erinnerung. Er muss zur Beerdigung seiner Mutter ins Reservat, das er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat, und will bei dieser Gelegenheit seit vielen Jahren auch wieder seinen Bruder treffen, die einzige noch verbliebene Verbindung zur Vergangenheit.

Medicine River (DVD-Cover UAV 1993) Was sich bis zu diesem Augenblick wie ein etwas verlorenes und doch irgendwie ganz normales Leben ausnehmen mag, erfährt nun eine unerwartete Wendung. Kaum im Reservat angekommen, ist es mit der eingeübten Distanzrolle vorbei, denn nun kommt Harlen Bigbear ins Spiel. Wer Sherman Alexies Roman „Smoke Signals“ bzw. dessen Verfilmung durch Chris Eyre kennt, wird sich sicherlich an Thomas, eine der beiden Hauptfiguren erinnern. Harlen könnte sein Zwillingsbruder sein. Nicht unbedingt im Hinblick auf alte indianische Geschichten, aber in dem unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Und Harlen nimmt sich Wills an, der sich diesem gutgläubigen, ewig positiv denkenden, vereinnahmenden, alles regeln wollenden Typen einfach nicht entziehen kann. Harlen ist immer da und hat schon wieder eine nächste Idee, wie er Will und des Rest des Stammes glücklich machen kann. Nervig? Ja, aber zugleich eine Herausforderung für Will.

Wer die realen indianischen Verhältnisse kennt, wird seine Freude an der Geschichte haben, denn das Chaos ist immer nur eine Ecke entfernt und wird doch mit größtem Gleichmut erduldet. Kein Mensch ist perfekt, keine Verpflichtung so wichtig wie die Beziehung untereinander und der Zusammenhalt in der Gemeinschaft – und das muss auch Will lernen.

Thomas King bietet viele Gelegenheiten zum Schmunzeln in der Beschreibung der Verhältnisse, manches Lachen ist garantiert, doch er vergisst nicht die Schattenseiten. Wills Schatten ist sein Vater, ein Rodeoreiter, der eigentlich nie da war, als Will ihn brauchte. Immer war er unterwegs, schickte von hier und dort eine Postkarte, doch als Vater war er eher ein Phantasiegestalt, wie sie sich Kinder in ihren Tagträumen ausdenken. Und genau das macht Will selbst noch als Erwachsener. Die Erinnerung wird zur Konstruktion, die ihre literarische Umsetzung in Rückblenden findet, die sich nahtlos in die Gegenwart einfügen.

Thomas King beschönigt nichts und verurteilt nichts – er zeigt das wirkliche Leben der Indigenen mit Verständnis, Einfühlkraft und viel Humor und erweist sich damit als aufmerksamer Beobachter, der mit gekonnter Feder den Menschen in all seinen Facetten zeichnet.

Thomas King wurde 1943 als Sohn eines Cherokee und einer griechisch-deutsch-stämmigen Mutter in Sacramento geboren und wuchs in Kalifornien auf. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft in Utah unterrichtete er Native Studies an der University of California und arbeitete er als Photojournalist, u.a. in Australien und Neuseeland. Als Autor hat er Romane, Kurzgeschichten und Kinderbücher verfasst. Das Skript zur Verfilmung von „Medicine River“, seinem ersten Roman, hat er ebenfalls selbst geschrieben. Darüber hinaus entwickelte er für CBC eine eigene Radioshow, „The Dead Dog Cafe Comedy Hour“. King lebt heute in Kanada und unterrichtet englische Literatur und Creative Writing an der Universität von Ontario.

”Thomas King, Medicine River
Roman, übersetzt von Cornelia Panzacchi, 264 Seiten, gebunden, A1 Verlag, 2008, 19,00 Euro
Erhältlich bei Amazonlink-external.
Film,
Regie:Stuart Margolin, Darsteller: Graham Greene, Sheila Tousey, Tom Jackson,
UAV 1992, 27-84 US$
Auf VHS (NTSC) erhältlich bei Amazonlink-external.

Erstellt von admin. Letzte Änderung: Mittwoch, 15. Juli 2020 12:17:03 CEST von admin. (Version 5)

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