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Sebastian Barry: Tage ohne Ende

Tage ohne Ende (Cover: Steidl Verlag) Ein gälischer Western – mit Indigenen
gelesen von Dionys Zink

Für die einen ist er der ewige Untote in der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts, für die anderen ein Utopiebaukasten, aus dem man je nach Zeitgeist und Geschmack die immer wieder gleiche, mehr oder weniger überhöhte Geschichte von der amerikanischen Zivilisation und Menschwerdung basteln kann. Die Rede ist vom amerikanischen Western, der mit seinen wahren oder auch gebrochenen Helden den Mythos zelebriert, in dem ein Einzelner im Chaos an der Zivilisationsgrenze nach Ordnung und Sinn sucht oder sie versucht dieselben zu stiften.

In den letzten Monaten macht ein Western-Roman von sich reden, der dem in die Jahre gekommenen Genre noch etwas abzugewinnen scheint. Der gälische Autor Sebastian Barry thematisiert in seiner Erzählung „Tage ohne Ende“ gleich drei katastrophale Ereignisse in der Geschichte des 19. Jahrhunderts: die große Hungersnot der Gälen in den 40er Jahren, die Rolle der ausgewanderten Gälen als Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 1865) und schließlich ihre Mitwirkung an der Vernichtung der Amerindianer der großen Ebenen.
Das ist insofern bemerkenswert, als dass Barry damit verdeutlicht, wie gründlich der britische Kolonialismus und der damit einhergehende Rassismus auch seine Opfer zu pervertieren imstande war. Es waren die Überlebenden des Great Famine in Irland, die auch in den Vereinigten Staaten als katholisch und daher verdächtiges Lumpenpack diskriminiert wurden. „Irish need not apply“ (sinngemäß: Gälen brauchen sich gar nicht erst zu bewerben) war ein ein häufiger Zusatz in amerikanischen Stellenanzeigen und auf Werbeplakaten des 19. Jahrhunderts. Daher nimmt es nicht Wunder, dass sich viele Gälen schon allein um des Überlebens willen zu den amerikanischen Streikräften meldeten. Und so kommt es, dass im amerikanischen Bürgerkrieg gälische Regimenter der Nordstaaten-Armee, z.B. das 69th Regiment aus New York, auf konföderierte Einheiten stießen, in denen ebenfalls Gälen, gelegentlich aus der gleichen Familie dienten.

Diese Gälen, so die untergründige Botschaft des Romans, kämpften weniger um den Erhalt der staatlichen Einheit oder die Entscheidung in der Sklavenfrage, als vielmehr um ihren Platz in der amerikanischen Gesellschaft. Die Romanhandlung nimmt den Leser dann auch mit in die Abgründe der sinnlosen Metzeleien des ersten modernen Vernichtungskrieges und in das berüchtigte Krieggefangenenlager von Andersonville, in dem mehr als 13000 Unionssoldaten an Wasser- und Verpflegungsmangel starben. Und sie führt ihn nach Fort Laramie in den Jahren der ersten großen Konflikte zwischen den Lakota und den Vereinigten Staaten. Barry überlässt es den Lesern, die Parallelen zu ziehen zwischen der dehumanisierten Kriegsführung der Soldaten im Bürgerkrieg und den Massakern an Frauen und Kindern der Urbevölkerung. Die Episoden zeichnen die tatsächliche Geschichte nach: Streit um entführte Kinder, missglückte Strafexpeditionen wegen Angriffen auf illegale Siedler, entgleiste Verhandlungen zwischen Autochthonen und Weißen. Nur ansatzweise und dann nur auf der Ebene der individuellen Beziehung und des eigenen Handelns wird dem erzählenden Protagonisten bewusst, dass er Opfer und Täter zugleich ist.

Man fühlt sich gleich an mehrere Western-Klassiker und ihre Protagonisten erinnert: An den Helden Jack Crabb aus „Little Big Man“ oder auch an den von Clint Eastwood dargestellten Renegaten „Josie Wales“, Figuren also, die aus den unterschiedlichsten Gründen - und nicht selten zufällig - die Seiten wechseln. Mit amerikanischen Ureinwohnern hat das wenig zu tun, sie sind eben doch nur Staffage für ein Lebensdrama, das letztlich eine Utopie formuliert, die deshalb ansatzweise zu funktionieren scheint, weil es sich um eine Gesellschaft des Übergangs handelt, die zwischen zivilisierter Menschlichkeit und unbeschreiblicher Barbarei hin und her schwankt. Wenn die Institutionen besonders gut sind, müssen es die Menschen nicht sein, so ähnlich lautet ein Aphorismus aus Bertolt Brechts „Me-Ti Buch der Wendungen“. In der Frontiergesellschaft Sebastian Barrys und mehr noch im Bürgerkriegspanorama seines Romans, sind die einzigen funktionierenden Institutionen die U.S. Army bzw. die Bürgerkriegsarmee der Union und im Handlungszusammenhang das, was man heute als gleichgeschlechtliche Patchwork-Familie bezeichnen würde. Im Umkehrschluss und Brecht folgend erscheint es dem Rezensenten höchst fraglich, dass Institutionen aus uns bessere Menschen machen.

Ach so, der Held der Geschichte ist schwul? Das wiederum interessiert den Rezensenten höchstens am Rande, denn die eigentliche Botschaft des Romans ist nicht, dass Homosexuelle bessere Menschen sind, nur weil sie sich vermeintlich häufiger auf der Opferseite der Geschichte finden. Am Schluss dieser Liebesgeschichte leben zwei Schwule zusammen in den Südstaaten und ziehen ein geraubtes Lakota-Mädchen groß. Na schön. Dergleichen gab’s ansatzweise schon vorher. Im Roman, der die Vorlage für „Little Big Man“ lieferte, ist der erzählende Held Jack Crabb ebenfalls homosexuell. In neueren (Film-)geschichten begegnen einem entsprechende Cowboys in „Brokeback Mountain“ oder die Buschklepper in Jim Jarmuschs psychedelischem Western „Dead Man“. Echte Männer der Grenze…

Ein letzter Hinweis noch: Natürlich hat sich im deutschen Sprachgebrauch Ire als Bezeichnung für die Bewohner Irlands durchgesetzt, die um der Entkolonialsierung willen hier als Gälen bezeichnet werden.

Barry, Sebastian, Tage ohne Ende, ist beim Steidl-Verlag erschienen. Der Roman umfasst 256 Seiten und kostet in der gebundenen Ausgabe 22,00 €.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Dienstag, 28. Januar 2020 11:30:11 CET von oliver. (Version 4)

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