Laden…
 
menu-extra

Rudy Wiebe: Literarischer Grenzgänger zwischen Wildnis und Zivilisation

Rudy Wiebe und sein neuer Roman über John Franklins erste Suche nach der Nordwestpassage
gelesen von Dionys Zink

Das Schicksal der letzten Expedition John Franklins zur Entdeckung der Nordwestpassage, also der nördlichen Ost-West-Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik, beschäftigt noch heute die Gemüter. So widmete sich etwa das renommierte amerikanische National Geographic Magazin vor einigen Jahren der Spurensuche nach den Verschollenen der britischen Expedition und der deutsche Schriftsteller Sten Nadolny machte mit dem Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ Furore.
Franklins letzte Expedition 1845 war nach dem nach dem neuesten Stand der Technik ausgestattet und scheiterte einerseits am Packeis des arktischen Ozeans und andereseits an einem scheinbar nebensächlichen Detail: Die Nahrungsmittelvorräte wurden erstmalig in Konservendosen mitgeführt, die mit Blei verschlossen worden waren. Ihr jahrelanger Verzehr in den vom Packeis eingeschlossenen Schiffen führte bei allen Expeditionsteilnehmern zu tödlichen Vergiftungen.

Wie so vieles in der Geschichte Kanadas beginnt Rudy Wiebes Roman mit einer Kanufahrt auf den Spuren der „Entdecker“. Der Autor machte sich 1988 auf den Weg nach Norden, um nach den Überresten der ersten Franklin Expedition zu forschen. Und tatsächlich wurden die sechs modernen Voyageure fündig: Feuerstellen, Gräber und Erzählungen der Indianer überstanden mehr als 150 Jahre arktische Umweltbedingungen.
Rudy Wiebes preisgekrönter Roman Land jenseits der Stimmen kehrt an den Ausgangspunkt der Karriere Sir John Franklins zurück, als dieser, damals noch ein junger Leutnant, 1819 an der Westküste der Hudson Bay abgesetzt wurde, um von Land her einen Durchfahrtsweg im Norden des Doppelkontinents zu erkunden. Anders als Nadolny, der seinen John Franklin zu einer Art beharrlichen, stillen Helden stilisiert, ist der Kommandant der Expedition bei Wiebe nur eine Nebenfigur. Der Offizier und Untergebene Robert Hood ist neben dem indianischen Mädchen Greenstockings der Held der Geschichte.
Land jenseits der Stimmen erzählt von der Expedition vor allem aus der Sicht der Dene zwischen Großem Bärensee und Großen Sklavensee in den heutigen Northwest Territories unter kanadischer Verwaltung. Der Originaltitel A Discovery of Strangers markiert mit seiner Doppeldeutigkeit (Eine Entdeckung von Fremden) das Wechselspiel zwischen den beteiligten Kulturen.
Deutlich wird, dass Franklin die Yellowknife-Indianer erbarmungslos ausnutzte, um das ausgesetzte Preisgeld von 20 000 Pfund in Gold für den Entdecker der Nordwestpassage zu erringen. Hier wird erzählt, welchen Preis Ureinwohner und Metis-Voyageure dafür entrichten mussten, aber auch wie sie verzweifelt versuchten, Franklin und seine Gefolgsleute vor dem Tod durch Erfrieren und Verhungern zu retten.

Überdeutlich wird dabei, was Sir John Franklin am 11. Juni 1847 das Leben kosten sollte: Die Unfähigkeit mit den extremen Umweltbedingungen der Arktis im Einklang zu leben, sich auf das Überlebensnotwendige zu beschränken, so wie es Dene und Inuit ihm vormachten und zu erklären versuchten.

Der kanadische Autor Wiebe hält sich in der Entwicklung seiner Erzählung an die Fakten, die offiziellen Reiseberichte der Expedition. Im Gespräch verweist der Autor aber auch darauf, dass die indianische Überlieferung in den Northwest Territories bis heute nicht nur Episoden der Franklin-Expeditionen, sondern auch der seines Vorgängers Samuel Hearne Jahrzehnte zuvor, zu bewahren wusste. Eine weitere Quelle des Romans sind die traditionellen Erzählungen der Dene-Indianer, etwa von der Entstehung der Welt genauso wie die düstere Prophezeiung vom Verbotenen Felsen am Großen Bärensee, der während des Zweiten Weltkriegs als Uranlagerstätte für den Bau der ersten Atombomben ausgebeutet wurde.

Trotz der reichen Fakten ist Land jenseits der Stimmen auch ein Roman, der sich aus einer merkwürdigen Variante des Pocahontas-Motivs ergibt. Die indianische Frau Greenstockings liebt den Marine-Offizier Hood, doch anders als Powhatans schöner Tochter gelingt ihr die Rettung nicht. Amüsant und interessant ist das Unterfangen, die Kommunikation zwischen Menschen darzustellen, welche die Sprache des jeweils anderen nicht verstehen. Die Wahrträume von Greenstockings Mutter und das Hungerdelirium der sterbenden Expeditionsteilnehmer lassen erkennen, dass unterschiedliches Bewusstsein eine Frage von Sein oder Nichtsein entscheidet.

Die Kanufahrt, die zu Beginn der Arbeit an diesem Roman stand, ließ Wiebe und seine Mitreisenden die Unermesslichkeiten des kanadischen Nordens erfahren. Am Dogrib Rock häuften sie Steine aufeinander, unter denen sie eine Art Urkunde begruben, welche Zeit und Ziel ihres Unternehmens dokumentiert. Ihre Wahrnehmung der Landschaft gipfelte in der Feststellung „Ein Land jenseits der Stimmen“.

Übersetzt wurde der Roman von Joachim Utz, der in enger Zusammenarbeit mit Wiebe nicht nur eine sprachlich gelungene Übertragung schuf, sondern in einer persönlichen Begegnung mit den heutigen Dene und den Schauplätzen der Handlung auch gedanklich weit in die terra incognita der Northwest Territories vorgedrungen ist. Die gemeinsame Vorstellung und Lesung Wiebes und Utz’ am 13. September im kanadischen Generalkonsulat in München vermittelte eindrucksvoll welch enges Miteinander literarische Übersetzungen erfordern, wenn sie der poetischen Qualität der Vorlage gleichkommen sollen.

Rudy Wiebe (geb. 1934) ist Nachkomme einer mennonitischen Familie, die in den zwanziger Jahren aus Russland nach Saskatchewan auswanderte. Ursprünglich stammt die protestantische Glaubensgemeinschaft aus dem deutschsprachigen Raum, wanderte aber wegen der religiösen Verfolgung in Mitteleuropa nach Russland aus. In der Folge der Oktoberrevolution verließen sie Russland und zogen in die Neue Welt. Bei den Mennoniten, die heute vor allem in den Prärie-Provinzen Kanadas von der Landwirtschaft leben, ist der alte deutsche Dialekt ihrer Vorfahren noch lebendig. So ist Deutsch die eigentliche Muttersprache Wiebes, der auch zeitweilig an der Universität Tübingen studierte.
Seit vier Jahrzehnten ist Wiebe publizistisch und als Schriftsteller tätig und gilt als einer der herausragenden Autoren Kanadas. Neben der Auseinandersetzung mit dem Leben der Mennoniten befasste er sich immer wieder mit der Geschichte und Gegenwart der kanadischen Ureinwohner. The Temptations of Big Bear (etwa: Die Versuchungen Big Bears) erzählt die Geschichte des Plains Cree Häuptlings Big Bear, der sich der kanadischen Landnahme im Westen um 1876 widersetzte. Stolen Life – Journey of a Cree Woman in Zusammenarbeit mit Yvonne Johnson erschien 1996, und versucht die Lebensgeschichte der wegen eines Tötungsdelikts verurteilten Johnson aus der Sicht der Indianerin darzustellen, die zugleich Täter und Opfer ist. Wie von Rudy Wiebe zu erfahren war, ist eine deutsche Übersetzung von Stolen Life in Vorbereitung.

Land jenseits der Stimmen ist im Eichborn-Verlag erschienen.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Freitag, 17. Januar 2020 16:37:46 CET von oliver. (Version 3)