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Oui oder non?

von Oliver Kluge (veröffentlich 4/1995)

Québec hat gewählt. Am 1. November war der von allen mit Spannung erwartete historische Tag Québecs, der Tag, an dem Québec sich zum eigenen Staat machen sollte, falls sich die Mehrheit hinter die Separatisten stellen würde.

Das hat sie jedoch nicht. Während der Auszählung sah es stundenlang so aus, als hätte die Parti Québécois (PQ) ihr Ziel erreicht. Wie überall trafen auch in Québec zuerst die Abstimmergebnisse von den ländlichen Wahlkreisen ein, da sie schneller ausgezählt sind. Sie deuteten auf einen Sieg der Separatisten hin. Die Trendumkehr kam durch die Ergebnisse der Drei-Millionen-Metropole Montreal. Zum Schluß standen die Separatisten vor einem Ergebnis von 49,4 Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie hatten ihr Ziel um 27.000 Stimmen verfehlt.

In Montreal selbst kam es in Folge zu stundenlangen Straßenschlachten, die auch ein Großaufgebot der Polizei nicht verhindern konnte. Randalierend und plündernd zogen tausend Anhänger beider Seiten durch die Stadt.

Sachlicher war da schon das Echo aus dem restlichen Kanada. Der kanadische Premierminister Jean Chretien, selbst Québecer, rief zur Aussöhnung auf. Seine Regierung wolle nun einen neuen Kompromiß suchen, eine neuerliche Krise zu verhindern. Auch die Anerkennung Québecs als »distinct society« (besondere Gesellschaft) sei verhandelbar. Wörtlich sagte er, an den Québecer Premier Jaques Parizeau gerichtet »Ich reiche Ihnen meine Hand. Bitte greifen Sie zu«.

Der angesprochene ignorierte das Angebot. Zusammen mit dem Führer des auf Bundesebene agierenden Bloc Québécois, Lucien Bouchard kündigte er an, ein neues Referendum abhalten zu wollen. Überraschend ist das nicht, denn dieses Referendum war nicht das erste: Schon 1980 scheiterte ein Versuch, Québec aus dem Bund loszulösen. Im Jahre 1992 wurde dann ein Gesetz verabschiedet, ein Referendum abzuhalten, zu dem es aber nicht kam: Im sogenannten Charlottetown Accord wurde ein geänderter Verfassungstext zwischen Vertretern beider Regierungen und Ureinwohnerorganisationen ausgehandelt, der in einer bundesweiten Abstimmung von den Wählern jedoch mit Mehrheit abgelehnt wurde. 1994 wurde in Quebec die Parti Québécois gewählt, hauptsächlich für das Versprechen Parizeaus, ein erneutes Referendum abzuhalten.

Im Anschluß an seine Ausführungen nach der Abstimmung trat Parizeau zurück und sagte, er wolle sich ganz aus der Politik verabschieden. Dies darf als taktisches Manöver gedeutet werden. Nach Québecer Recht kann jede Regierung zum gleichen Thema nur ein Referendum abhalten. Würde Parizeau nicht Platz machen für Lucien Bouchard, könnte bis zum Ende seiner Amstzeit (1999) kein neues Referendum abgehalten werden.

Zuvor sorgte er jedoch noch ganz kräftig für Wirbel. Parizeau hilt eine bittere Rede und schob die Schuld für die Niederlage der Separatisten dem »großen Geld« zu, und den ethnischen Minderheiten. Es mißfiel ihm sichtlich, daß sich Québecs Wirtschaft dem »Nein« zur Abspaltung ebenso anschloß wie die anglophone Minderheit. Diese hätten die Québécois um ihre Unabhängigkeit betrogen.

Diese Brandrede löste natürlich Empörung aus. Kanadas Ministerpräsident gab sich geschockt, und zahlreiche Verbände verurteilten in Pressecommuniqués die »rassistischen Äußerungen« Parizeaus.

Doch nicht nur die Wirtschaft und der englisch parlierende Teil der Bevölkerung Québecs, auch die Indianer sind gegen eine Abspaltung von Kanada.

Bereits viermal seit »Entdeckung« Amerikas wechselten die Gebiete der Cree den »Besitzer«. Mal als königliche Geschenke überreicht, mal zwischen Handelkompanien aufgeteilt, und natürlich jedesmal ohne die Cree zu fragen. So ist es nur verständlich, daß sie sich vehement dagegen zu Wehr setzen, ein weiteres Mal in ein anderes Rechtsgebilde gezwängt zu werden - und auch diesmal nicht gefragt zu werden.

Dabei steht die Sorge im Vordergrund, daß der geringe Grad an Rechtssicherheit und Schutz, den die Ureinwohner Québecs heute haben, komplett in Frage gestellt wäre, wenn Québec Souveränität erlangen würde.

Ein Beispiel wäre das James Bay and Northern Québec Agreement, JBNQA, das zwischen den James Bay Cree und den Inuit sowie beiden Regierungen unter dem imminenten Druck der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch die Mega-Wasserkraftprojekte des staatlichen Energiemultis Hydro Québec verhandelt wurde und das von Québecs Regierungen immer wieder als Beispiel angeführt wurde, daß die Cree »praktisch schon heute« selbstständig wären.

Andererseits gab es auch Stimmen, die mit diesem Abkommen die völkerrechtlichen Ansprüche der Cree abgegolten wären. Kann sich Québec als Staat einfach einseitig selbst in einen bestehenden Vertrag anstelle einer der Vertragsparteien einsetzen? Oder würde es den Vertrag einfach für null und nichtig erklären? Würde es die Erfüllung von Verpflichtungen aus vertraglichen Bindungen zwischen den Ureinwohnern und Kanada wenn nötig mit Waffengewalt unterbinden?

Die Cree argumentieren treffend, daß - falls die Québécois eine »distinct society« sind - nach genau den selben Maßstäben auch die Cree eine »distinct society« wären und somit das völkerrechtliche Anrecht auf einen eigenen Staat hätten. Da sie aber die größte Fläche Québecs bewohnen, würden sie den größten Teil mit sich mitnehmen - und die Bodenschätze und die Energie, die dort gewonnen werden. Dies war natürlich als handfeste Drohung gegen die Separatisten zu verstehen, die zumindest von der Industrie nicht unbeachtet geblieben ist. Denn diese konnte sich eine massive Standortverschlechterung in glühenden Farben ausmalen, zumal auch die US-Regierung nicht müde wurde zu betonen, daß ein selbstständiges Québec nicht glauben solle, daß alle bilateralen Verträge zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada automatisch für einen neuen Staat Québec gelten würden, es müsse dann vielmehr alles neu aufgerollt werden - einschließlich der Freihandelszone NAFTA.

Von einem Sieg der Referendumsgegner zu sprechen wäre dennoch vermessen. Zu dünn ist ihre Mehrheit, und die Konflikte zwischen der Provinz und dem Bund sind mit Chretiens Versöhnungsaufruf noch lange nicht gelöst. Ob Kanadas Bundesregierung Kapital aus dem Abstimmungsergebnis schlagen kann, hängt denn in erster Linie von ihr selbst ab. Verspielt sie die Chance, dann wird das dritte Referendum anders ausgehen. So sitzt Chretien denn zwischen allen Stühlen. Der Bloc Québécois wird nun umso heftiger massive Verfassungsänderungen fordern, doch die im anglophonen Westen Kanadas starke Reform Party wird sich dem heftigst widersetzen.

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Freitag, 28. Januar 2022 21:08:36 CET von oliver. (Version 5)

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