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Niko Tinbergen: Eskimoland

Europäischer Blick: Die grönländischen Inuit in den dreißiger Jahren
gelesen von Dionys Zink

So war das wohl nicht gedacht. Ein junger Forscher namens Nikolaas Tinbergen und seine Frau Lies erhalten als Biologen die Chance zu einem einjährigen Forschungsaufenthalt in Ostgrönland. Sie sind Teil einer sechsköpfigen niederländischen Forschergruppe, die mit Ausnahmegenehmigungen der dänischen Regierung versehen, zum Internationalen Polarjahr 1932/33 ihre Basis für meterologische Beobachtungen in Angmagssalik (heute: Tassiusaq) einrichten. Alles aber, was Tinbergen an biologischen Forschungsergebnissen nach Hause bringt, sind ein paar dürftige Beobachtungen zum Fortpflanzungs- und Revierverhalten der Schneeammer im Frühling und eine Studie über einen arktischen Schnepfenvogel, der als Odinshühnchen bezeichnet wird.

Der eigentliche Ertrag dieser Hochzeitsreise besteht in einem Bericht über die Begegnungen mit den ostgrönländischen Inuit. Das Besondere daran ist, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht-dänische Europäer nur selten die Gelegenheit haben, sich länger in Grönland aufzuhalten. Die Dänen hatten 1921 ihre Oberhoheit über Grönland erklärt. Norwegen erkannte diesen einseitigen Anspruch nicht vollständig an und versuchte bis 1933 mit der Ansiedlung von Fischern an der ostgrönländischen Küste eigene Forderungen für ihren Kolonisationsraum Eirik-Raudes-Land zu legitimieren. Erst ein Schiedsspruch des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag konnte den Streit der Skandinavier um Grönland dauerhaft schlichten, wenngleich ohne die Berücksichtigung der Inuit- Interessen. Erst 2009 wurde aus dem bis dahin geltenden Autonomie-Statut eine echte Selbstverwaltung der Grönländer. Außen- und wirtschaftspolitisch wird Grönland nach wie vor auf internationaler Ebene von Dänemark vertreten. In völliger Verkennung der Realitäten veranlasste dieser Umstand den gegenwärtig als US-Präsident figurierenden Immobilienhändler D.Trump öffentlich Überlegungen anzustellen, Dänemark Grönland abkaufen zu wollen.

Die Ureinwohner leben 1932 noch tradtionell von den natürlichen Ressourcen des Landes, von Fischfang und Robbenjagd, Sammel- und Tauschwirtschaft. Das Ehepaar Tinbergen hat geradezu sagenhaftes Glück, denn sie werden im Sommer ihres Aufenthalts von einem weitgehend traditionell lebenden Inuit namens Kârale (Andreassen) in die Kultur der Ureinwohner eingeführt. Zwar bewundern die Inuit die Technologie der europäischen Besucher, die das harte Leben in der Arktis zu vereinfachen scheint. Tinbergen räumt in seinem Bericht aber ein, dass auf die Anerkennung nahezu immer die Frage folgt, ob er den betreffenden Ausrüstungsgegenstand selbst angefertigt habe. In der Regel muss der Niederländer dies verneinen und damit hat sich das Thema für die Ureinwohner auch schon wieder erledigt, denn Werkzeuge, die man nicht selbstständig reparieren oder ersetzen kann, haben für sie nur den Wert eines besseren Spielzeugs. Wie groß das Entgegenkommen der Inuit für die Besucher aus Europa ist, kann man daran ersehen, dass sie für Lies und Nikolaas Tinbergen eigene Kajaks aus Treibholz und Robbenfell herstellen, fast wie um den Gästen zu beweisen, worauf es im wirklichen Inuitdasein ankommt.

Lies und Niko Tinbergen nutzten den dunklen Winter um möglichst viel von der Sprache der grönländischen Inuit zu lernen. Und sie setzen sich gründlich mit der Situation der Ureinwohner auseinander, die schon in den dreißiger Jahren in der Konkurrenz mit Europäern um die begrenzten Ressourcen den Kürzeren zogen: „Alle Jäger, mit denen wir gesprochen haben, berichteten von norwegischen Fangschiffen, die die Klappmützenrobben manchmal noch kurz vor der Küste und in großen Mengen vor den Augen der Kajakjäger wegschießen. (…) Die Entscheidung des Haager Gerichts vom April 1933, das ganz Grönland den Dänen zugesprochen hat, kann diesen Konflikt nicht ohne Weiteres beenden. An der Ostküste Grönlands gibt es zweifellos Raum sowohl für eine blühende Eskimopopulation als auch für ein ordentliches Kontingent europäischer Robbenfänger; im Interesse der Eskimos wäre jedoch die Achtung ihres Jagdgebiets notwendig.“

Trotz erheblicher Anpassungen der beiden Niederländer an ihre Umwelt und der großen Gastfreundschaft der Inuit wird in dem Bericht auch deutlich, dass manche Beobachtung und Erfahrung Niko Tinbergens die Grenzen europäischer Verständnisbereitschaft überschreitet. Mit Erstaunen verzeichnet der Forscher, dass manche Inuit-Jäger die Rolle mit dem gekenterten Kajak nicht beherrschen. Ein Umkippen des leichten Fahrzeugs führt also häufig zum Tod durch Ertrinken, weil sich der Kajakfahrer nicht mehr selbstständig aus seiner Lage befreien kann. Auch in Bezug auf die immer wieder vorkommenden Nahrungsengpässe in isolierten Inuit-Gemeinden Grönlands zeigt Tinbergen wenig Verständnis, vermutlich weil ihm zu dieser Zeit noch eine ganzheitliche Perspektive fehlt. Aus der traditionellen Sicht der Inuit der damaligen Zeit sind Hungersnöte die unausweisliche Konsequenz der Übernutzung traditioneller Ressourcen, der man mit dem selben Gleichmut begegnen muss, wie der Tatsache, dass ein Jagdunfall plötzlich Menschenleben kosten kann.

Gleich nach der Rückkehr aus Grönland veröffentlichte Tinbergen 1934 seinen Bericht, der natürlich kein ethnologischer Feldforschungsbericht sein will, sondern eher eine populäre Erzählung darstellt, von größerer Bedeutung als seine Forschungsergebnisse zu Goldammer und Odinshühnchen ist es allemal. Mit entsprechender Resonanz wurde das Buch seinerzeit auch in den Niederlanden aufgenommen. Dass dieser Erstling eines der Begründer der modernen Verhaltensforschung erst jetzt in Deutschland erscheint, ist - mit Verlaub - doch etwas verwunderlich.

Die Tinbergens dokumentierten ihr Jahr in Grönland mit außerordentlichen Fotos und einer umfangreichen Sammlung ethnografischer Objekte, die heute im Rijksmuseum voor Volkenkunde in Leiden aufbewahrt wird; eine große Anzahl dieser Fotos findet sich in dem hier besprochenen Band. Niko und Lies Tinbergens Leben gehört zu den wirklich großen Geschichten der Forschung und der europäischen Historie. Als Nazi-Deutschland die Niederlande besetzte und die Besatzer 1942 die Entfernung aller jüdischen Gelehrten von der Universität Leiden verfügten, weigerte sich auch Tinbergen mit sechzig seiner Kollegen dem zuzustimmen und legte sein Amt als Professor nieder. 1942 bis 1944 wurde er als Geisel für Vergeltungsaktionen der Nazis inhaftiert. Seine Forschungen zum Instinkt bei Tieren brachten ihm 1973 zusammen mit Graugänsevater Konrad Lorenz und Karl von Frisch den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ein.

Niko Tinbergens „Eskimoland Ein Bericht aus der Arktis“ ist im Verlag C.H. Beck in München erschienen. Die gebundene Ausgabe in der Übersetzung von Gerd Busse und Ulrich Faure im Umfang von 240 Seiten kostet 22,00 €.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Freitag, 17. Januar 2020 16:35:27 CET von oliver. (Version 2)