Interview mit Lance Henson
I Am My Nation
Dionys Zink: In deutscher Sprache wird eine umfangreiche „Indianerliteratur“ veröffentlicht, beispielsweise erzählende Texte von Thomas Sanchez oder N. Scott Momaday auf der einen Seite, aber auch Lyrik, wie die von Joy Harjo andererseits. Nach welchen Kriterien ist ein Autor oder eine Autorin als authentische Stimme der Ureinwohner einzuschätzen?
Lance Henson: Der erste Roman eines Indianers, der in Europa publiziert wurde, ist meines Wissens nach N. Scott Momadays „Haus aus Morgendämmerung“. Er erschien in den frühen siebziger Jahren. Seither erreichten viele indianische Autoren Europa, mich eingeschlossen. Was die Authentizität anbelangt, stellen die Arbeiten dieser Autoren ihre Stammesvölker genau und sorgfältig dar.
Genauer betrachtet handelt aber Momadays Roman „Haus aus Morgendämmerung“ gar nicht von dem Volk, aus dem er selbst stammt, sondern von einem indianischen Volk des Südwestens, das er sehr genau kennt.
Joy Harjos Arbeiten sind letzthin recht bekannt geworden und ich denke auch sie ist eine gute Vertreterin ihres Stammes. Diese Autoren, die direkt über ihre Völker schreiben, können die wahre Geschichte ihrer Verwandten am besten darstellen.
Die Rolle der indianischen Autoren ist der anderer Schriftsteller in anderen Kulturen ähnlich, auch sie sind die Stimme ihrer Völker.
Dionys Zink: Dennoch gibt es Bestrebungen, sich von nicht-indianischen Autoren abzugrenzen und damit den an unseren Beispielen formulierten Anspruch auf Authentizität zu verteidigen.
Lance Henson: Vor sieben Jahren veranstalteten indigene Autoren aus Südamerika, den USA und Kanada ein Treffen an der Oklahoma University zu diesem Thema. Damals diskutierten wir die Leitlinien, nach denen ein Schriftsteller als authentisch einzuschätzen ist.
Erstens spielt eine Rolle, ob der oder die Betreffende von seinem eigenen Stamm, dem er oder sie anzugehören erklärt, anerkannt wird.
Zweitens soll gelten, dass die Stimme des Schriftstellers auch bei seinem eigenen Volk als authentisch gehört wird.
Dionys Zink: Das führt aber auch zu Schwierigkeiten mit Personen, die zu Recht oder zu Unrecht behaupten, indigene Vorfahren zu haben und die dann entsprechend als indianische Autoren vermarktet werden, obwohl sie tatsächlich keinerlei Verbindung zu den Stammesgemeinden und ihrer Kultur vorweisen können.
Lance Henson: Das ist schnell zu überprüfen, die meisten Stammesverwaltungen können über Telefon und Fax befragt werden. Alle Stämme in den USA sind durch das Bureau of Indian Affairs gesetzlich dazu verpflichtet, eine Mitgliedsverwaltung einzurichten. Falls jemandes Mitgliedschaft bezweifelt werden muss, sollte man dort anrufen. Dies gilt vor allem für Organisationen in Europa. Sie können ohneweiteres die Listennummer (role number) erfragen und das dazugehörige amtlich beglaubigte Geburtsdatum. Mehr Aufwand ist nicht erforderlich. Wenn man aber wegen jemand wie zum Beispiel Diane Glancy anruft, wird man herausfinden, dass sie ein eingetragenes Mitglied der Cherokee Nation ist. Das liegt daran, dass nachdem Wilma Mankiller den Stammesvorsitz übernommen hatte, die Mitgliedslisten dieser Nation geöffnet wurden.
Die Folge ist, dass selbst Leute, die der Abstammung nach nurmehr ein Vierundsechzigstel Indianer sind, als Stammesangehörige anerkannt werden. So wird Diane Glancy, die keine wirkliche Beziehung zu den Cherokee hat, auf einmal zur Indianerin. Sie veröffentlicht regelmäßig als „indianische Autorin“ und lehrt auch unter dieser Bezeichnung am McAllister College in Missouri.
Das erste Mal, als sie mir begegnete, war sie noch die Eigentümerin eines jüdischen Buchladens und eines Verlags. Die indianische Community weiß über solche Angelegenheiten ziemlich genau Bescheid.
Dionys Zink: Ist ein indianischer Autor in seiner Rolle als Tradierender auch den Schamanen, Priestern oder Medizinmännern verwandt, so wie beispielsweise in den frühen europäischen Kulturen?
Lance Henson: Ich kenne keinen Schamanen, der sich selbst als solcher bezeichnen würde, andere Leute bezeichnen diese Menschen so. Die einzige Rolle, die ich jemals als Dichter übernommen habe, ist meinem Volk Gehör zu verschaffen. Meine Stimme spricht stellvertretend über die gesellschaftlichen, politischen und auch metaphysischen Ereignisse im Leben meines Volkes. In diesem Sinn bin ich mein Volk. Um das sein zu können, muss ich mich ihm zugehörig fühlen und am zeremoniellen Leben meines Volkes teilhaben.
Diese Überlegung bietet auch einen allgemeinen Zugang zu meiner Arbeit, wie dies etwa auch in dem Aufsatz von Norma Wilson (bisher unveröffentlicht, Anm.d. Übers.) zum Ausdruck kommt. Sie sieht mich als einen Vertreter der mystischen Stimme meines Volkes an. Eigentlich will ich diesen Anspruch nicht erheben, doch es scheint, dass mein Gesamtwerk in mehr als 30 Büchern über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten Literaturwissenschaftler davon überzeugt hat, dass ein Teil dessen, was meine Arbeit ausmacht, in Verbindung mit der Spiritualität meines Volkes zu sehen ist.
Dionys Zink: Der Titel des Neuen Buches wird „Lieder in der Sprache des Feindes“ sein. Besteht da nicht doch ein Widerspruch, ein Werk zu schaffen, dass sich in weiten Teilen mit dem Feind befasst und sich dabei doch seiner Sprache bedienen zu müssen?
Lance Henson: Mein Großvater Bob Cook, der mich in Oklahoma erzogen hat, erklärte mir als ich noch ein Teenager war, dass ich als Menschenwesen nur Erfolg im Leben haben würde, wenn ich doppelt so gut wäre, wie jeder andere Nicht-Cheyenne. Ich habe das damals so aufgefasst, dass ich mich eben doppelt anstrengen müsste, um mit meinen Ideen erfolgreich zu sein.
Weder damals noch heute nahm ich die Worte meines Großvater auf die leichte Schulter. Schon allein deswegen nicht, weil ich weiß, dass sein Leben als Menschenwesen nicht leicht war, weder seines, noch das meiner Mutter meiner Onkel und Tanten.
Es war schwierig in positiver und negativer Hinsicht, weil ein traditionelles Leben auf der Grundlage von Zeremonien schwierig ist, wenn man es von einem Standpunkt außerhalb betrachtet. Von innen her gesehen, stehen die Schwierigkeiten Cheyenne zu sein aber nicht im Vordergrund. Demnach ist auch die Auseinandersetzung mit der Sprache des Feindes nicht problematisch.
Der Grund für den Titel der Gedichte besteht in meinem Versuch historische Fakten und spirituelle Gesichtspunkte in die Symbolsprache meiner in Englisch gehaltenen Gedichte zu transformieren. Was sich also im Schreibprozess ereignete, brachte den Titel hervor.
Die Problematik für den Leser liegt darin, dass er normalerweise keinen Bezugspunkt hinsichtlich der vielen Detailereignisse innerhalb der Gedichte aufspüren kann.
Tatsächlich erscheint es für ihn paradox, dass ich innerhalb einer aufgezwungenen Sprache ein Puzzle auf der Grundlage einer poetischen Struktur geschaffen habe.
Auf diese Gedichte folgten zwölf weitere Zwei- und Dreizeiler in Tsitsistas, der Sprache der Cheyenne, die ich anschließend auch noch ins Englische übertrug. Diese Texte befinden sich noch in meinem Computerarchiv, sind also noch unveröffentlicht.
Damit sind die „Twelve Songs“ auch ein typisches Ergebnis cheyennischer Weltsicht, weil ihnen fast wie ein Spiegel weiter zwölf Texte gegenüberstehen. Obwohl wir an der Schwelle des dritten Jahrtausends nach westlicher Zeitrechnung stehen, wirken also die traditionellen Werte und Strukturen im Unterbewussten meiner Arbeit fort.
Dionys Zink: Auf welche historischen Ereignisse beziehen sich die „Twelve Songs“?
Lance Henson: Es geht um den Ausbruch einer Gruppe von Cheyenne aus Fort Reno, das damals im Indianer-Territorium lag, dem heutigen Oklahoma. Die Gedichte beziehen sich nicht auf die chronologische Abfolge der Ereignisse im Verlauf der Flucht. Es handelt sich einfach um poetische Anmerkungen zu den Geschichten, die sich während der Reise dieser Menschen von Fort Reno über Fort Robinson und weiter nach Montana ereigneten. Einige Texte beziehen sich auch auf das Massaker am Sand Creek, das sich einige Jahre vor der Flucht von 1878/79 ereignete.
Dionys Zink: Auch mit historischem Hintergrundwissen und Erfahrung im Umgang mit moderner Lyrik sind diese Texte für Europäer schwer zu verstehen. Es scheint, dass Cheyenne-Konzepte eine wesentliche Rolle darin spielen, die so einfach nicht zu erschließen sind.
Lance Henson: Man kann es vielleicht anhand von Beispielen erklären. Der Schatten ist ein symbolischer Ausdruck für den klar umrissenen Schatten einer menschlichen Gestalt, hervorgerufen durch die Sonne.
In einer weiteren Übertragung ist der Schatten, die abstrakte Form des Menschen, ohne weitere Kennzeichen wie Augen- oder Hautfarbe. Was also damit gemeint sein kann, ist nur die Form eines Menschen an sich.
Die heilige Bedeutung von Schatten ist, dass damit die Seele angesprochen wird. Seele bedeutet für uns die eigentliche Kraft alles Existierenden. Die Seele gehört nicht der jeweiligen Person, sie ist der Schöpfer selbst. Für die Cheyenne ist der Schöpfer gleichbedeutend mit dem Universum. Was sich also im Schatten eines Menschen verkörpert, ist die Ganzheit des Kosmos selbst. Wenn die Seele die Gestalt verlässt, verschwindet sie nicht einfach, sondern sie besteht in einer beweglichen Beziehung mit allen anderen Existenzformen fort, denn das ist ihr eigentlicher Ursprung.
Dionys Zink: Muss also der Leser auch diese zweiten und dritten Bedeutungen in Texten indianischer Schriftsteller verstehen?
Lance Henson: Es ist sicher hilfreich zu wissen, wie die Weltsicht des jeweiligen Autors aufgebaut ist. Wenn man aber Gedichte mag, kann es sein, dass die Bilderwelten imstande sind, Emotionen, Leidenschaften, Sehnsüchte, Liebe und Angst zu vermitteln, einfach nur aus dem Grund weil sie „funktionieren“.
Es ist schon richtig, dass Begriffe für jeden Dichter einen besonderen Stellenwert haben, vor allem die Substantive haben häufig eine spezifische symbolische Bedeutung. Doch Menschen, die es gewohnt sind, sich mit Lyrik auseinanderzusetzen sind zu einem Verständnis dessen fähig, was diese Begriffe bei ihnen selbst zum Schwingen bringen. Ein Gedicht zu lesen erfordert Offenheit gegenüber den Vorstellungen, die darin zum Ausdruck gebracht werden. Das ist sicher kein drittklassiger Annäherungsversuch an ein Gedicht, es ist ein menschlicher Weg, denn darin liegt das Verständnis davon, was ein Gedichttext wirklich ist. Ein Gedicht ist der Ausdruck von erfahrener Erkenntnis über die Umgebung eines Dichters oder einer Dichterin. Sie zeichnen auf, was sie wahrnehmen.
Man muss also kein Cheyenne sein, um zu verstehen, wenn man gewillt ist, sich der Welt der Ureinwohner ein wenig zu öffnen.
Meist haben diese Texte eine grundlegende Bedeutung jenseits des Offensichtlichen, eben eine übertragene, symbolische oder spirituelle Bedeutung. Manchmal aber ist in diesen Gedichten ein Baum einfach nur ein Baum.
Das Interview entstand für das neue Buch von Lance Henson „Songs In the Enemy`s Language“ und wird hier gekürzt wiedergegeben
Photos von Lance Henson
Hinweis: Das Buch ist in unserer Sales Corner bestellbar!