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Joseph Boyden: Der lange Weg

Joseph Boyden 2013 (Foto: Dan Harasymchuk) Cree-Indianer im europäischen Krieg
von Dionys Zink

Es dürfte wohl kaum noch jemand am Leben sein, der sie als junger Erwachsener überlebt hat, die Schlacht von Verdun, die sich in diesem Jahr zum neunzigsten Mal jährt. Den später Geborenen verstellen der Zweite Weltkrieg und seine Folgen den Blick auf den ersten, den man einen Weltkrieg nannte. Und deshalb ist oft der fremde Blick auf den „Grande Guerre“ auf eigenartige Art interessant, bringt man doch die Geschichte nicht mehr mit den Gesichtern der Großväter der Kindheit oder den verblichenen Photographien der Urgroßväter zusammen.

Als das 20. Jahrhundert noch jung war, unterschieden sich Leben und Weltbild der Cree-Indianer im Norden Kanadas noch nicht wesentlich von dem ihrer Vorfahren, die als Jäger und Fallensteller bereits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Kolonialherren Pelzhandel betrieben. Der Erste Weltkrieg stellte jedoch aus verschiedenen Gründen eine Zäsur dar, die Europäern kaum bewusst wird, jedenfalls bis sie zum Beispiel in British Columbia die Gedenktafeln lesen, mit denen am Straßenrand an die Spanische Grippe erinnert wird, denen Tausende von Indianern, manchmal fast ganze Völker mit eigenen Sprachen zum Opfer fielen. Die Seuche wurde von Soldaten in die Gemeinden eingeschleppt.

Im Schicksal der beiden Indianer Xavier und Elijah aus dem Gebiet der James Bay, die sich freiwillig zum Dienst in der kanadischen Armee melden, wird der Zivilisationsbruch, den ein Krieg allemal bedeutet, besonders deutlich. Der Leser wird Zeuge, wie aus den beiden Buschjägern zunächst einfache Soldaten werden, die sich kaum mit ihren Mitkämpfern verständigen können. Im Verlauf der Romanhandlung werden sie infolge ihrer überdurchschnittlichen Befähigung zur Jagd zu Scharfschützen, die vor den Schützengräben in der von Granaten zerwühlten Landschaft Jagd auf unvorsichtige deutsche Soldaten machen. Elijah ist der bessere Schütze, Xavier sein Beobachter, der sich mit ihm in das unwegsame Gelände wagt. Getrieben von der nackten Angst um das Überleben und zunehmend versessen auf Abschussrekorde entfremden sich die Indianer ihrer Kultur auf unterschiedliche Weise.

Boyden erzählt mit einer fast hyperrealen Detailtreue, womit sein Roman einschlägige Texte, z.B. „Im Westen nichts Neues“ deutlich übertrifft. Man fühlt sich streckenweise an die Eingangssequenz moderner Kriegsfilme vom Typ „Saving Private Ryan“ erinnert. Doch während der Spielberg-Film bis zum Schluss darauf beharrt, selbst die Sinnlosigkeit des dargestellten Heroismus mit der Dankbarkeit der Nachwelt zu überspielen, zeigt Boydens Roman nichts dergleichen. Stattdessen beobachtet der Leser, wie die beiden Indianer in das Grauen des Grabenkriegs und der Morphium-Abhängigkeit abrutschen, der eine weil er zum Windego, zum Menschenfresser, geworden ist, der andere, weil er den Schmerz seiner letztlich tödlichen Verletzung betäuben muss. Die elegische Reise des tödlich verletzten Xavier im Kanu nach Hause, begleitet und gestützt von seiner Tante, bildet die Rahmenerzählung zum Kriegsgeschehen. Mit diesem erzählerischen Trick schafft Boyden die die Distanz, mit der zumindest lesend das ganze Ausmaß dieses Irrsinns wahrzunehmen ist, die Distanz, aus der sich die Ereignisse auf den Schlachtfeldern Frankreichs lesend erst ertragen lassen.

Nachbemerkung:
Vom Großvater des Verfassers wird in Familienerzählungen berichtet, dass er völlig verroht aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs zurückgekehrt sei und dennoch zu einem sorgenden Familienvater wurde, der sich am zweiten großen Krieg nicht mehr beteiligen musste. An Schicksalen, wie denen der Großväter und ihrer hier geschilderten (indianischen) Gegner, wird deutlich, dass der Katastrophe eines Weltkriegs eine kulturelle Katastrophe folgen musste, welche die einfachen Leute am härtesten traf.

Boyden, Joseph, „Der lange Weg“ (446 Seiten) ist 2006 im Albrecht Knaus Verlag erschienen.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Freitag, 17. Januar 2020 16:14:49 CET von oliver. (Version 7)