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Indianersommer der Lubicon Cree Indian Nation

von Dionys Zink
(veröffentlicht 1992)

Der nachfolgende Text, eine Schilderung der Ereignisse um die Blockade des traditionellen Jagdgebiets der Lubicon Cree, wurde bereits Anfang 1989 für den Coyote 1/89 verfaßt. Wir drucken ihn dennoch in diesem Special leicht verändert ab, da er neben der reinen Sachinformation auch die zeitweilige Dramatik dieses seit einem halben Jahrhundert andauernden Landrechtsstreits vermittelt. Seitdem hat sich die Situation der Lubicon Cree weiter verschlechtert, der Optimismus, der in einigen Passagen dieses Artikels anklingt, ist mittlerweile einer großen Ernüchterung und Enttäuschung gewichen.

11. Oktoberlink

Als ich in Edmonton eintreffe, ist die Situation bereits zum Zerreißen angespannt. Die seit Wochen angekündigte Blockade des traditionellen Jagdgebiets der Lubicon Cree Band wurde bereits am 6. Oktober mit dem Rückzug der Cree aus drei laufenden Gerichtsverfahren eingeleitet. Mit ihrer Ankündigung, nicht mehr an den Verfahren teilzunehmen, erklären sich die Lubicon zur eigenen Nation, unabhängig von Kanada und deshalb auch nicht mehr an kanadisches Recht gebunden.
In den Abendnachrichten des kanadischen Fernsehens CBC erscheinen Bilder von den Cree und ihrer Ansiedlung Little Buffalo im Norden der Provinz Alberta. Ebenfalls zu sehen ist die Wirkung der angedrohten Blockade: Die im Gebiet fördernden Ölfirmen legen ihre Pumpen still und ziehen bewegliches Material und Personal ab. Nur wenige Ölkonzerne lassen ein oder zwei Sicherheitsingenieure zurück, die für die Wartung der ruhenden Installationen zuständig sind.

In der Zwischenzeit signalisiert der Premierminister der Provinz Alberta, Don Getty, erneut seine Verhandlungsbereitschaft. Die Cree befinden sich in einem Zwiespalt. Einerseits würden sie dem Premier gerne Glauben schenken und eine weitere Verhandlungsrunde auf sich nehmen, andererseits sind sie durch leidvolle Erfahrung im Umgang mit Regierungsvertretern vorsichtig geworden. Ihre Situation erlaubt es nicht, weiterhin kostbare Zeit und Energie zu verschwenden. Daher setzen sie für diese Verhandlungen einen festen Zeitpunkt, bis zu dem substantielle Forderungen erfüllt sein müssen, andernfalls wird die Blockade durchgeführt. Als verbindlicher Schluß der Verhandlungen wird der 14. Oktober, 24 Uhr bestimmt.

12. und 13. Oktoberlink

Während zwei Verhandlungsteams der Lubicon sich weiterhin um eine Einigung mit der Provinzregierung bemühen, laufen die Vorbereitungen der Lubicon Cree und ihrer Unterstützungsorganisationen bereits auf Hochtouren. Aus Europa treffen Vertreter der Gesellschaft für bedrohte Völker und der Schwesterorganisation in Österreich sowie des Svensk Indianska Förbundet ein. Jim Smith, ein Vertreter des Museum of the American Indian in New York, befindet sich bereits seit mehreren Wochen in Little Buffalo. Peter Gerber, ein Schweizer Ethnologe aus Zürich, besucht das Beratungsbüro der Cree in Edmonton, und ein italienischer Journalist meldet Interviewwünsche an. Sogar Radio Havanna bittet Bernard Ominayak, den Häuptling der Lubicon Cree, um einen Gesprächstermin. Bernard kehrt von Edmonton nach Little Buffalo zurück, die Erwartungen sind gedämpft optimistisch. Fred Lennarson, der weiße Berater der Lubicon, sieht eine reelle Chance für einen Erfolg. Frank Kressing, Vertreter der Gesellschaft für bedrohte Völker, und ich werden Bernard und John Goddard, einen Journalisten aus Montreal, auf dem Flug begleiten. Zuvor geben Frank und ich noch ein Interview für das kanadische Fernsehen, das am Abend ausgestrahlt wird.

Wenig später landen wir in Peace River, dem Little Buffalo am nächsten gelegenen Flugplatz. Die weißen Bewohner der Ortschaft treten uns gegenüber reserviert bis ablehnend auf. Bernard Ominayak, seit längerem als Chief der Lubicon Cree in ganz Kanada bekannt, geben die Angestellten in Restaurants und Geschäften vor nicht zu kennen. Als wir in einem Gemischtwarenladen den Manager auf die Titelblätter der beiden Lokalzeitungen mit Bildern von Bernard hinweisen, bekommen wir eine geballte Ladung von Vorurteilen und Halbwahrheiten serviert…

Noch bevor wir nach eineinhalbstündiger Autofahrt über den Schotterhighway Nummer 686 in Little Buffalo einquartiert werden, stellt uns Bernard seine Gemeinde vor. Wir machen die Runde bei den Ältesten und Sprechern der Lubicon Cree, schließen Bekanntschaft mit Walter Whitehead, Bernards Vorgänger im Amt des Häuptlings. Obwohl die Cree zurückhaltend sind, gewinnen Frank und ich bald den Eindruck, daß wir es im Vergleich zu anderen von uns besuchten Indianern mit viel offeneren, weniger von der weißen Zivilisation beeinträchtigten Menschen zu tun haben. Wüßten wir nicht um die beinahe 50 Jahre dauernden Auseinandersetzungen, erschiene uns vieles weniger schlimm als in anderen indianischen Gemeinden. In Gesprächen mit Indianern und weißen Unterstützern wird uns klar, daß die Lubicon Cree Band eine Gruppe von geradezu unglaublicher Disziplin und Selbstbeherrschung ist. Dennoch haben Alkoholismus und Krankheiten der weißen Kultur auch hier ihre Spuren hinterlassen. Von den Verhandlungen gibt es keine Fortschritte zu melden, beide Verhandlungspartner sind sparsam mit ihren Auskünften an die Presse, um einen noch immer möglichen Erfolg nicht zu gefährden.

14. Oktoberlink

Bereits am frühen Nachmittag kehren Steve Noskey und Edward Laboucan mit James O’Reilly, dem Anwalt der Cree, ergebnislos von den Verhandlungen aus Edmonton zurück. Die Blockade von vier Straßen, den Zugängen zu dem etwa 10.000 Quadratkilometer umfassenden Gebiet der Lubicon Cree wird für 13 Uhr des folgenden Tages angekündigt. Neben Unterstützern, vor allem kirchlicher Organisationen, treffen zahlreiche Vertreter der kanadischen Medien ein, die neben Tonband und Fernsehkameras auch über Helikopter und mobile Sendestationen verfügen.

15. Oktoberlink

In einer Versammlung werden die Lubicon Cree und die immer rascher wachsende Zahl von indianischen und weißen Unterstützern über die Ereignisse in Edmonton unterrichtet. Noch einmal werden für die Fernseh-Öffentlichkeit die Forderungen der Lubicon Indian Nation präzise erläutert. Im Verlauf des Vormittags fallen die Medien nicht nur über die offiziellen Vertreter der Lubicon, sondern auch über die von weit hergereisten Unterstützer aus Europa her. Mittlerweile ist sogar ein holländischer Abgeordneter der Grünen im Europaparlament mit einem Mitarbeiter eingetroffen. Wir versuchen den Journalisten verständlich zu machen, daß es sich mit unserem Engagement nicht um eine europäische Gefühlsduselei Marke <192>Edler Wilder<169> handelt. Zugleich bemühen sich Frank und ich mit bundesdeutschen Medien Kontakt aufzunehmen.

Kurz nach 13 Uhr ist es dann soweit, vorbereitete Stoppschilder werden auf Pick-up Trucks verladen und zu den vereinbarten Checkpoints transportiert. Den Trucks folgt eine lange Kette von Fernsehwagen und Unterstützerfahrzeugen. Nur wenige bleiben im Little Buffalo zurück, darunter die Quäker, die den Telefoninformationsdienst übernommen haben. Mit freundlicher Stimme melden sie sich mit einer für kanadische Verhältnisse unerhörten Provokation: “Lubicon Indian Nation, may I help you?”.
An dem Hauptkontrollpunkt, der den Highway 686 blockiert, versammeln sich etwa 300 Menschen, die aufgeregt den Beobachtungsflugzeugen der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) zuwinken. Es herrscht beinahe so etwas wie eine Partyatmosphäre um die rasch errichtete, eher symbolische Absperrung. Gespannt erwartet man die ersten Fahrzeuge, die Zugang zum Gebiet erlangen wollen. Bereits Tage vorher hatte die Polizei vor Reisen in und durch das Gebiet gewarnt. Von möglichen Gewalttaten durch von außen kommende Agitatoren war die Rede, die Beteiligung “europäischer Radikaler” wurde argwöhnisch zur Kenntnis genommen. Tatsächlich erregt mein arabisches Halstuch das Interesse der Journalisten und wird sofort als “Terroristenschal” identifiziert.

Wenige Stunden nach der Abriegelung der Zufahrtsstraßen richtet auch die kanadische Polizei nur etwa 200 Meter entfernt Kontrollstellen ein. Mit kleinlichen Beanstandungen versucht sie weiterhin, anreisende Unterstützer und ortsansässige Cree einzuschüchtern. Ein italienischer Journalist beschwert sich über die “südamerikanischen Polizeistaatsmethoden”. Die Provinzregierung verkündet, sie werde mit “Gesetzesbrechern” keine Verhandlungen führen.

16. bis 18. Oktoberlink

Die Blockade ist auf unbestimmte Zeit angesetzt, weshalb durch die Lubicon Cree bereits Tage vorher Werkzeuge und Material für den Ausbau der Kontrollpunkte beschafft wurden. Zelte und Blockhäuser werden eingerichtet um den Wachtposten, die rund um die Uhr ihren Dienst versehen, die Arbeit erträglich zu machen. Die Wachteams bestehen aus Teenagern der Cree und weißen Unterstützern. Seit einigen Tagen ist der “Indian Summer” in diesem Teil Kanadas zu Ende gegangen, gelegentlich fällt leichter Schnee. Am Abend wird an großen Feuern über die Auswirkungen der Kampagnen von Pelzjagdgegnern diskutiert, von Jagderlebnissen erzählt, manchmal am Highway 686 auch getrommelt. Am Morgen erscheinen an allen Checkpoints Streifenwagen der RCMP, es wird überprüft, ob die Blockade weitergeht, es kommt zu Gesprächen in der kalten Morgenluft vor dem Frühstück. Einige Aufregung entsteht, als ein Polizeihubschrauber bei einem der Ölcamps landet. Ein Vertreter der Cree bietet ihnen einen Kaffee an, den der Pilot und seine Begleitung aber ablehnen.

Bernard Ominayak, Fred Lennarson, Richard Plodzien, Wirtschaftsexperte, und Walter Whitehead sind in ihren mit Sprechfunk ausgerüsteten Geländewagen unermüdlich unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Insbesondere Bernard und Fred legen eine unglaubliche Ausdauer an den Tag. Beide scheinen unter diesen Bedingungen seit mehreren Tagen ohne Schlaf auszukommen. Dennoch haben sie neben der ganzen Arbeit auch noch einen Blick für Veränderungen in der Natur. Bernard berichtet von mehreren Elchen, die sich nach dem Stillstand der Pumpen offensichtlich wieder aus ihren Rückzugsgebieten über die Straßen wagen. Coyoten, sonst sehr scheue Tiere, werden gesichtet. Die Rückkehr der Tiere wird allgemein als gutes Zeichen gewertet. Bernard erlegt sogar einen Elch, der unter den Besatzungen der Checkpoints aufgeteilt wird. Bei Elchsteak zum Frühstück beginnt man allmählich ein wenig zu begreifen, warum die Cree so hartnäckig an ihrer traditionellen Lebensweise festhalten.

19. Oktoberlink

Nach und nach treffen immer mehr Unterstützer aus indianischen Reservaten ein. Praktisch alle indianischen Nationen des kanadischen Westens sind vertreten, Cree aus den angrenzenden Provinzen British Columbia und Saskatchewan, Blood aus dem Süden Albertas, Haida von der heftig umstrittenen Vancouver-Insel, Blackfoot und auch Metis, Abkömmlinge von Mischehen zwischen weißen Jägern und (Cree-) Indianerinnen, die in Kanada den Status einer eigenen eingeborenen Bevölkerungsgruppe besitzen.

Für die Medien wird die Blockade zur Routine. Nachdem alle Beteiligten innerhalb der vergangenen Tage mehrfach interviewt wurden, ist das Nachrichtenjagdgebiet abgegrast. Die großen Fernsehcrews ziehen sich nach Peace River in die Hotels mit Duschen zurück. Nur wenige Journalisten bleiben in Little Buffalo, um weitere Hintergrundinformationen zu sammeln.
In einem Tipi am Highway 686 findet abends eine Zeremonie statt, die von einem Medizinmann der Big Stone Cree geleitet wird. Versehentlich stolpere ich in das Zelt als die Zeremonie schon begonnen hat, doch meinem Mißgeschick wird verständnisvoll begegnet. Die Big Stone Cree Band kämpft mit ganz ähnlichen Problemen wie die Lubicon Cree. Auch sie wurden bei dem Vertragsabschluß Ende des letzten Jahrhunderts einfach vergessen, da sie in einem nur schwer zugänglichen Gebiet lebten. Sollten die Lubicon mit ihren Aktionen erfolgreich sein, wäre damit ein Präzedenzfall geschaffen, der den Big Stone Cree und einer ganzen Reihe weiterer indianischer Gruppen endlich zu ihrem Recht verhelfen könnte.

20. Oktoberlink

Noch im Halbschlaf höre ich lautes Rufen von der Straße her. Frank, der neben mir im Tipi übernachtet hat, zieht sich an und verläßt das Zelt. “Police Cars” dringt es zu mir durch. Na, und wenn schon, die waren ja bisher jeden Morgen zu Besuch. Mit jedem Moment, den ich wacher werde, der Lärm draußen zunimmt, werde ich neugieriger. Frank kommt zum Zelt zurück und meldet, daß sich jetzt vier oder fünf Polizeifahrzeuge an der Absperrung befinden. Ich ziehe mich rasch an. Ein Polizist verliest eine einstweilige Verfügung. Mit Funkgeräten wird das Büro der Lubicon Cree im drei Kilometer entfernten Little Buffalo verständigt. Wenige Minuten später ist in dieser Richtung das Aufblitzen von Autoscheinwerfern zu sehen.

Diesmal ist es kein morgendlicher Schwatz: Wir werden aufgefordert, die Straße zu räumen, andernfalls würde die RCMP zur Verhaftung schreiten. Über uns schwebt ein Polizeihubschrauber, als die Beamten mit Motorsägen und anderem Werkzeug die Absperrung beseitigen. Fred Lennarson und James O’Reilly, der Anwalt, kommen aus dem Ort mit weiteren Unterstützern, eine heftige Diskussion mit den Polizeibeamten folgt. Tom Walker, der Fotograf des <192>Calgary Herald<169> beginnt ein Einmann-Blitzlichtgewitter. Um Zeit zu gewinnen, liest O’Reilly die Räumungsverfügung noch einmal durch. Der befehlshabende RCMP-Offizier gibt uns fünf Minuten Zeit, den Weg frei zu machen. Wir rühren uns nicht von der Stelle. Terry Laboucan ist der erste Cree, der verhaftet wird. Es folgen O’Reilly, meine Wenigkeit. Als ich abgeführt werde, nehme ich wegen der Aufregung weder das Hundegebell, noch die Scharfschützen wahr, die den Platz im Schutz des angrenzenden Waldes umstellt haben. Ich werde nach Waffen durchsucht, mein Taschenmesser wird konfisziert.

Der Polizist registriert betreten, daß ich Ausländer bin; so wie dieser Mann zittert, hat er offensichtlich mehr Angst als ich. Wenig später im Kleintransporter der RCMP machen Walter, der ebenfalls verhaftete Ex-Chief, und ich schon wieder Witze, vor allem über Tom, den Fotografen, der bei dem Versuch aus allen Lagen Bilder zu schießen beinahe selbst verhaftet wird. Auf dem Weg zum nächsten Airstrip hören wir über Funk, daß neben O’Reilly auch Fred Lennarson verhaftet wurde. “Wonderful”, kommentiert die Funkstimme. An der Landebahn zwanzig Kilometer entfernt wartet bereits ein Flugzeug der Polizei auf uns. Vor der Transportmaschine werden wir erneut durchsucht und zusammen mit dem Beamten, der uns verhaftet hat, fotografiert. Dann steigen wir ein. Langsam werden die Plätze besetzt. Offensichtlich hatte man nicht mit so vielen Verhafteten gerechnet. Das Flugzeug mit seinen achtzehn Plätzen wird ein zweites Mal fliegen müssen, um alle nach Peace River ins Gefängnis zu verfrachten.

Dort werden uns alle Habseligkeiten abgenommen, einschließlich der Schuhe und Gürtel. Der Platz reicht bei weitem nicht aus. Wir sitzen zu viert in einer Zweimannzelle. Ich rufe Frank in der anderen Zelle ein Hallo zu. Fred, der außer der kanadischen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, Frank und ich werden gesondert vernommen. Wir befürchten, daß die kanadischen Behörden uns abschieben wollen. Im von uns getrennten Frauentrakt des Gebäudes hören wir Singen. Zwei Quäkerinnen wurden an einem weiteren Checkpoint festgenommen, sie teilen uns so ihre Anwesenheit mit und machen sich Mut. Nach einigen Stunden setzt man uns ein Fast-Food-Essen zum Davonlaufen vor… Betty, eine der Quäkerinnen, berichtet später, die Wärterin hätte ihnen das Essen mit der Bemerkung überreicht, daß sie jetzt seit längerer Zeit wohl wieder etwas Anständiges zu essen bekämen… Der Richter muß erst noch aus Calgary eingeflogen werden, deshalb wird man uns mindestens bis zum Abend festhalten. Unterdessen laufen zwischen München, Bonn, Edmonton und Ottawa die Telefone heiß, Botschaften, Konsulate, Organisationen, Medien und Angehörige werden verständigt.

Nach 20 Uhr ist es soweit, wir werden aus den Zellen gelassen und zum Gericht transportiert. Mit Bob Sachs, dem zweiten Anwalt der Lubicon Cree, wird vereinbart, daß alle Verhafteten versprechen werden, nicht weiter aktiv an der Blockade teilzunehmen. In diesem Fall sollen wir sofort aus der Haft entlassen werden. Über Bob erfahren wir, daß wenige Minuten nach unserer Festnahme bei Bernard das Telefon klingelte, am Apparat der Premier der Provinz Alberta, Don Getty. Der Politiker erklärte, daß jetzt, nachdem die Blockade beendet sei, die Verhandlungen wieder aufgenommen werden könnten. Bernard weigert sich - mit einem Pistolenlauf an der Schläfe führe er keine Verhandlungen, antwortet er dem Premier.
Der Saal, den wir nach weiteren anderthalb Stunden Wartezeit im Gang betreten, ist gerammelt voll mit Presseleuten und Unterstützern der Lubicon. Flüsternd versuchen uns die Journalisten noch vor Verhandlungsbeginn zu interviewen. Die Prozedur ist kurz, nacheinander werden wir namentlich aufgerufen, unsere vereinbarte Erklärung abzugeben. Unser Verzicht zur weiteren Teilnahme an Blockadeaktionen schließt ausdrücklich die Anerkennung kanadischer Rechtshoheit auf dem Gebiet der Lubicon Cree aus.

Vor dem Gerichtsgebäude warten Kameras und Scheinwerfer auf uns. Ich ergreife die Flucht, besorge erst einmal mit Fred ein paar Bier. In dem Restaurant, das uns illegalerweise Bier zum Mitnehmen verkauft, sehen wir uns selbst im Fernsehen das Gerichtsgebäude verlassen.

Einige Stunden später sind wir zurück in Little Buffalo, die Checkpoint-Camps sind verwüstet und verlassen. Nahe am Ort hat die Polizei in einem Container eine Überwachungszentrale eingerichtet. Stunde um Stunde patrouillieren Streifenwagen auf den Straßen der Ansiedlung. Erst in den frühen Morgenstunden schlafe ich nach einem heftigen Migräneanfall ein.

21. und 22. Oktoberlink

Nach unserer Freilassung stimmt Bernard weiteren Verhandlungen zu. Der Premier Getty wird zu diesem Zweck persönlich nach Norden kommen. Die Medien ziehen Richtung Peace River und Grimshaw, dem Verhandlungsort, ab. Eine gespannte Ruhe kehrt ein. Frank und ich fahren nach Peace River, um Wäsche zu waschen. In einem Hotel wollen wir mit Richard Plodzien, dem Wirtschaftsberater der Lubicon, zusammentreffen, der sich dort von den Strapazen der vergangenen Tage erholt. Leider ist er nirgends aufzufinden. Überrascht stellen wir fest, daß alle Hotels komplett mit Einheiten der kanadischen Polizei ausgebucht sind. Dazwischen finden sich auch einige indianische Delegationen, zum Beispiel der Mohawk Nation, die für den Fall der Wiederaufnahme der Blockade einen eigenen Kurzwellensender zur schnellen unabhängigen Nachrichtenübermittlung gespendet hat. Auch in Peace River erwartet man gespannt Nachrichten vom Verlauf der Unterredung zwischen Bernard und Getty. Falls auch diese Gespräche scheitern sollten, planen die indianischen Gruppen vom 24. Oktober an, die Gefängnisse der Provinz bis zum Platzen mit Blockierern aufzufüllen. Weitere Straßensperren sind im Gespräch, vorsichtig wird angedeutet, daß der Transcanada Highway, die wichtigste transkontinentale Verkehrsverbindung in Kanada, an mehreren Stellen durch indianische Reservate verläuft…

Überlegungen dieser Art sind Ergebnisse einer All-Chiefs-Versammlung, die eiligst von Bernard einberufen wurde, um den Protest der Lubicon auf die ganze Provinz und notfalls auf ganz Kanada ausweiten zu können.

23. Oktoberlink

Vormittags findet zusammen mit Bob Sachs eine Versammlung in der Behelfsbaracke statt, die den Cree als Gemeindesaal dient. Neuankömmlingen wird die Situation geschildert und Verhaltensregeln für den Fall einer erneuten Blockade eingeschärft. Bis zum nächsten Tag soll die Verhandlungsfrist noch laufen. Ich begebe mich ins Haus von John Felix Laboucan, um etwas von meinem Schlafdefizit abzubauen. Wenige Stunden später steige ich in ein Auto mit lachenden Cree Frauen, die auf dem Weg zum Band Office sind. Erst allmählich begreife ich: Bernard und Getty erzielten einen Durchbruch. Später erfahre ich die Einzelheiten der Vereinbarung. Die Lubicon Cree erhalten etwa 200 Quadratkilometer als Reservat. Zusätzlich bekommen sie weitere 48 Quadratkilometer Land ohne die Bodenschatzrechte zugesichert. Dies entspricht den Forderungen der Cree nach einem Reservat von etwa 250 Quadratkilometer. Eine weitere Blockade ist damit abgewendet.

Zur Rückkehr des erfolgreichen Häuptlings werden Freudenfeuer angezündet. Als Bernard die Community Hall betritt, ist für mehrere Minuten das eigene Wort nicht mehr zu verstehen, so laut ist die Begeisterung der Lubicon Cree für ihren Chief.
In den folgenden Tagen wird ausgiebig gefeiert, als besonderes Ereignis veranstalten die Indianer einen “Tea-Dance”, eine Zeremonie, welche wegen der schlechten Situation der Lubicon Cree schon länger nicht mehr durchgeführt wurde. Die weißen Unterstützer sind eingeladen, teilzunehmen. Zum Fest “tischen” die Gastgeber auf, was ihre Vorräte hergeben. Die Indianer, die im Norden am Yukon River leben, haben dazu noch eine besondere Delikatesse beigesteuert; um die Lubicon zu unterstützen, schickten sie einen Lastwagen mit Karibufleisch, ihrem bevorzugten Jagdwild.

Bei der Zeremonie bekommen wir auch erstmals die vielen Kinder zu sehen, für die das Gebiet von Kanada “zurückerobert” wurde. Sie besuchten trotz der aufregenden Ereignisse in ihrer Umgebung die ganze Zeit die Schule.
Die verbleibenden Tage verbringe ich mit Besuchen, etwa bei der Büffelherde der Siedlung, die nach wenigen Jahren bereits neunzehn Tiere umfaßt und eines der zukünftigen Projekte der Gemeinde darstellt. Trotz des nach wie vor laufenden Verfahrens wegen Nichtbefolgung der einstweiligen Verfügung verlasse ich Kanada einige Tage später.

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Sonntag, 19. Januar 2020 10:20:50 CET von oliver. (Version 1)