Laden…
 
menu-extra

Hartmut Lutz: Abraham Ulrikab im Zoo

Familie Ulrikab (PD-US) Eine menschliche Tragödie und die Geschichte ihrer geglückten Aufarbeitung

von Robert Stark
(veröffentlicht 4/2007)

In diesem Jahr erschien im „vdL:Verlag“ das Buch „Abraham Ulrikab im Zoo. Tagebuch eines Inuk 1880/1881“, herausgegeben von Hartmut Lutz in Zusammenarbeit mit Kathrin Grollmuß und Greifswalder Studierenden. Es handelt sich um die Publikation und ausführliche Kommentierung des ältesten bisher bekannten autobiographischen Dokuments eines Inuk. Die Publikation ist das Ergebnis eines vorbildlichen Projekts, das zeigt, was ethnologische Wissenschaft leisten kann, wenn ihre Ergebnisse nicht nur in hermetischen Zirkeln akademischer Elfenbeintürme diskutiert, sondern von engagierten Forschern in allgemeinverständlicher Sprache dargestellt werden.

Das Buch wurde am Donnerstag, den 22. November, in einer Schlussveranstaltung der Vortragsreihe „Leben der Inuit“ im Amerika Haus München vorgestellt, um es auch in Deutschland weiteren Kreisen bekannt zu machen. In Kanada ist die englische Version bereits ein Bestseller und wurde zu einem der 100 wichtigsten Bücher Kanadas 2005 gewählt. Bezeichnenderweise wurde das Buch in Iqaluit, der Hauptstadt der autonomen Inuit-Provinz Nunavut in Rekordzeit ausverkauft, und selbst der örtliche Rundfunk nahm sich des Themas an.

Das große Interesse der Inuit an dieser Publikation spricht für seine Verdienste. Hervorhebung verdient jedoch auch der Teamgeist, der die Publikation zustande gebracht hat. Die Idee zum Projekt stammt von Professor Hartmut Lutz. Er hat die lange Geschichte, die zur Publikation der englischen und schließlich der deutschen Version führte, in einem eigenen Kapitel geschildert. Dabei würdigt er ausführlich die Beiträge aller Beteiligten, die seit 1987 in verschiedener Form an der Entstehung des Projekts mitgewirkt hatten. Im Sommersemester 2002 arbeiteten verschiedene Studenten an einem Hauptseminar zum Tagebuch Abraham Urikabs mit dem Ziel, anhand verschiedener Vorarbeiten das Tagebuch sowie ergänzende Dokumente vom Deutschen in das Englische zu übersetzen und für die Publikation vorzubereiten. Als sich der ursprünglich vorgesehene Verleger in Kanada aus dem Projekt zurückzog, nutzte Professor Lutz seine guten Verbindungen zu kanadischen Institutionen, um es doch noch zu vollenden.

Schließlich erklärte sich die Direktorin der Ottawa University Press im Jahr 2005 bereit, das Buch zu drucken. Zuvor hatte Professor Lutz noch die Bekanntschaft des renommierten, deutsch-kanadischen Photographen Hans-Ludwig Blohm und des bedeutenden zeitgenössischen Inuit-Künstlers Alootook Ipellie gemacht. Erster stellte seine Photographien von Originalschauplätzen im heutigen Zustand zur Verfügung, Letzterer lieferte die Graphik für das Titelbild zum Buch und steuerte ein Vorwort bei. So trug die Arbeit der Studenten doch noch ungeahnte Früchte und der große Erfolg in Kanada dürfte für alle Beteiligten Belohnung und Genugtuung gewesen sein. Dies ermutigte zum Schritt einer Publikation in deutscher Sprache, und der vdL:Verlag unter der Leitung von Hans-Ludwig Blohms Schwester und deren Mann erklärte sich bereit, das Buch in Deutschland zu verlegen. Kathrin Grollmuß, eine der Beteiligten am Hauptseminar von 2002, ergänzte das bisher aufgearbeitete Quellenmaterial und machte das Thema zu Ihrer Magisterarbeit. Wesentliche Teile dieser Arbeit und die Übersetzung englischer Texte gingen nun in die deutsche Publikation ein. Zusammen mit Professor Lutz und „Greifswalder Studierenden“ tritt sie als Herausgeberin auf. Die Namen aller Studierenden, die zum Projekt beigetragen haben, sind jedoch am Ende des letzten Kapitels gleichermaßen in typographisch prominenter Stellung hervorgehoben. Die vorgenannten Entstehungsbedingungen geben einen Einblick in den „Esprit“, der an dem Institut herrschen muss, in dessen Umfeld diese Publikationen hervorgegangen sind. Vor einer weiteren Würdigung dieses Projekts soll aber zunächst der Inhalt des Buchs vorgestellt werden.

Abraham Ulrikab war einer von acht Inuit aus Labrador, die vom Seefahrer Johann A. Jacobson im Auftrag des Hamburger Zoodirektors Carl Hagenbeck 1880 nach Europa geholt wurden. Dort wurden sie zunächst in Hamburg und dann auf einer der zu dieser Zeit beliebten „Völkerschauen“-Tournee durch die Tierparks europäischer Großstädte mit außergewöhnlichem Erfolg ähnlich wie Tiere vorgeführt. Ihre nur fünfmonatige Reise nach Europa bezahlten die Inuit mit dem Leben. Eine Pocken-Infektion raffte sie innerhalb kurzer Zeit dahin. Ihre Geschichte hätte wohl kaum einen nachhaltigen Reflex hinterlassen, wenn Abraham Ulrikab nicht ein einzigartiges Dokument hinterlassen hätte – sein Tagebuch.

Siedlung der Inuit, entnommen dem Buch „Abraham Ulrikab im Zoo“ Dieses Tagebuch bietet erschütternde Einblicke in die menschenunwürdige und tragische Dimension der mit einer unglaublich naiven Begeisterung von den Veranstaltern durchgeführten und vom Publikum gleichermaßen euphorisch begrüßten „Hagenbeckschen Völkerschauen“. In Anlehnung an ältere Vorbilder professionalisierte der renommierte Zoodirekter Hagenbeck seit 1874 die Vorführung Angehöriger „primitiver“ Völker, die im Umfeld der kolonialen Ansprüche des jungen Deutschen Kaiserreiches auf großes Interesse stießen und regelrecht zur Legitimation für eine „Kulturmission“ der vermeintlich überlegenen, europäischen Völker missbraucht wurden. Diese von der überwältigenden Mehrheit der Zeitgenossen als Errungenschaft gefeierten Veranstaltungen waren scheinbar erfolgreich und die bestaunten „Exoten“ kehrten nach anstrengenden Monaten mit einer für ihre Verhältnisse stattlichen Summe Geld in die Heimat zurück. Aber hinter den Kulissen spielten sich unglaubliche Dramen ab, die im Falle der Inuit-Gruppe aus den Jahren 1880/81 einen tödlichen Ausgang nahmen. Die Schriftzeugnisse Abraham Ulrikabs, ergänzt durch andere zeitgenössische Dokumente, bieten über die besondere Tragik dieser Gruppe hinaus tiefe Einblicke in die Fragwürdigkeit dieser Unterfangen und die eurozentrische Überheblichkeit weiter Teile der Bevölkerung in den Industrienationen Europas im späten 19. Jahrhundert.

Abraham, der Ulrike-Mann (sein Nachname ist vom Namen seiner Frau abgeleitet), gehörte zu einer Gruppe von Inuit, die von der Herrnhuter Missionsstation Hebron aus christianisiert worden ist. Es war auch einer dieser Missionsbrüder, der seine Tagebuchunterlagen für die Missionsunterlagen ins Deutsche übertrug. Wie weit im Rahmen eines Synkretismus traditionelle Elemente in Abrahams Glaubensüberzeugungen weiterlebten, ist schwer zu sagen. Die Texte Abrahams sprechen für einen tief religiösen, christlichen Glauben, auch wenn sie an die Brüder der Herrnhuter Gemeinde gerichtet sind und ggf. deren Erwartungen zu entsprechen versuchen. Gerade der tiefe Glaube Abrahams wirkt vor dem Hintergrund des zunehmend verhängnisvollen Aufenthalts im christlichen Europa besonders erschütternd. Der bei den Herrnhuter Missionaren für seine Gelehrigkeit und vielseitigen Fertigkeiten hochgeschätzte Abraham ließ sich nur widerstrebend von Jakobson für die Völkerschau anwerben, da er die Bedenken der Herrnhuter Brüder gegenüber den negativen Folgen einer solchen Reise kannte. Vor allem aus finanzieller Not – zwei Sommer hintereinander war er als Jäger glücklos und hatte Schulden bei den Herrnhuter Missionaren gemacht – ließ er sich dazu bewegen, eine noch heidnische Schamanenfamilie in nördlicheren Gebieten anzuwerben. Schließlich willigte er selbst in die Gewinn versprechende Reise ein. Die Aussicht auf ein Wiedertreffen mit heimgekehrten Herrnhutern und die Neugier auf Europa waren weitere Motive. Abraham, seiner Frau Ulrike, seine beiden Töchter, sein Neffe sowie das Schamanenehepaar mit Tochter traten dann die Reise an. Bereits die Überfahrt verlief traumatisch, da die Inuit permanent an Seekrankheit litten. Bei der Ankunft in Hamburg musste der erkrankte Jakobson über Wochen stationär behandelt werden. Dies ließ ihn versäumen, seine Schützlinge impfen zu lassen, eine Unterlassung mit fatalen Folgen.

Die Inuit litten zunächst unter einem heftigen Kulturschock. Die fremde Umgebung, ein ständiger Lärmpegel und chronische Erkältungen durch die feuchte Kälte und fremdartige Krankheitserreger machten den Inuit zu schaffen. Hinzu kamen regelrecht hysterische Menschenmassen, die über die Einzäunungen der Ausstellungsfläche hinweg bis in die traditionellen Erdhütten nachempfundenen Behausungen der Inuit drängten. Nur die handgreifliche Gegenwehr Abrahams, der den „gefährlichen Wilden“ mimen musste, konnte die Eindringlinge zum Verlassen bewegen. Ordnungskräfte der Zooverwaltung brachte dies nicht zustande.

Man fühlt sich ein wenig an die allgemeine Hysterie erinnert, die das Eisbären-Baby „Knut“ zu Beginn dieses Jahres ausgelöst hat. Die wusste der Berliner Zoo kommerziell gut zu nutzen und zahlreiche Firmen, wie Haribo, diverse Buchverlage, die Kuscheltierindustrie aber auch die kanadische Tourismusbranche haben sich in diese gelungene Vermarktung eingeklinkt, investiert und auch profitiert. Dem Berliner Zoo sei der Erfolg gegönnt – wenngleich der Rummel mitunter kuriose Stilblüten getrieben hat. Bizarrerweise bietet die seinerzeit gleichermaßen populistische Wellen schlagende „Eskimo-Schau“ weniger harmlose, erschreckende Parallelen, denn es handelte sich um durch diese Praxis schwer verstörte Menschen und nicht um Eisbären. Hagenbecks „Völkerschauen“ waren ein durchaus raffiniertes, kommerzielles Unternehmen, das dem renommierten Zoo-Direktor das schwindende Interesse an zoologischen Gärten finanziell zu kompensieren half. Das Echo in der deutschen Presse war überwältigend positiv und heizte mit heutzutage grotesk wirkenden Berichten das Publikum mächtig an. Annoncen boten Stoff für „kulinarischen Voyeurismus“: „Bei günstiger Witterung … Verspeisung eines Seehundes durch die Eskimo’s [sic]“. Eine Firma Namens „Goldene 110“ warb mit absurden Schüttelreimen über die „Eskimos“ und ihr angebliches Bedürfnis nach moderner Kleidung für den im großen Maßstab angelegten Lagerverkauf reduzierter Wintertextilien.

Besonders bedauerlich ist aber die Legitimierung der Völkerschauen durch die etablierte Wissenschaft. Rudolf Virchow, der als Arzt, Anthropologe und Politiker zur einflussreichen intellektuellen Prominenz im deutschen Kaiserreich zählte, brach eine Lanze für Hagenbeck. Er untersuchte die Inuit ausführlich nach heute mitunter kurios anmutenden Kriterien. Hierzu zählte unter anderem die Anthropometrie, die aus der minutiösen Vermessung menschlicher Körper, insbesondere der Schädel, Schlüsse über die Eigenschaften bestimmter Rassen ziehen wollte. Den verzweifelten Versuch einer Inuitfrau, sich dieser Prozedur durch einen Schreianfall zu entziehen, wertete er wenig einfühlsam als hysterischen Krampf. Er wäre durch die Gewöhnung an exzessive, persönliche Aufregung, wie sie mit schamanistischer Praxis verbundenen ist, zu erklären. Wenngleich er auf die Fortsetzung seiner anthropometrischen Studien an dieser Frau verzichtete, stellte er seine eigene Praxis nicht in Frage. Die Ergebnisse seiner Beobachtungen trug er auf einer Sonderversammlung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft vor – mit leiblicher Vorführung seiner Studienobjekte – und veröffentlichte sie in der „Zeitschrift für Ethnologie“. Genau in diesem Rahmen griff Virchow auch den einzig bisher bekannten kritischen Artikel zur Praxis der „Eskimo-Schau“ in der Magdeburgischen Zeitung an, dessen Autor er als „verwilderten Feuilletonisten“ ohne jedes Verständnis für wissenschaftliche Fragestellungen disqualifizierte.

Abraham Ulrikab im Zoo (Cover: vdL:Verlag) Eine völlig irrige Einschätzung, denn J.K. (leider sind die Initialen bisher nicht zu entschlüsseln) erweist sich in seinem bzw. ihrem Artikel als eine erstaunlich modern denkende, aufgeklärte Persönlichkeit, die den Mut besaß, sich gegen den mainstream zu stellen und die menschenverachtende Praxis der Völkerschauen mit treffsicheren Worten und mitunter bissiger Ironie schonungslos zu entlarven. Zugleich besaß J.K. erstaunliches Einfühlungsvermögen für die Situation der Inuit: „Man sehe sich doch die Leutchen … ein wenig mehr im eigentlichen Sinne ‚anthropologisch’ an, und man wird deß [sic] sofort inne werden, dass namentlich auf den Mienen der Eskimo-Frauen ein melancholischer Zug haftet. Sie wissen es ganz gut, dass sie ausgestellt werden, preisgegeben den neugierigen, zudringlichen Blicken von Alt und Jung. Wer weiß, was diese Kinder des rauesten Nordens über ihre hochgebildeten europäischen Menschenbrüder denken mögen“. Damit begriff J.K. den Kern einer Problematik, die Virchow in seiner Fixierung auf vergleichsweise belanglose Äußerlichkeiten völlig entgangen war.

In der Tat belegen die Tagebucheinträge und zwei Briefe Abrahams an die Herrnhuter Brüder die zunehmende Verzweiflung der Inuit über ihre Situation. Während die christianisierte Familie Abrahams besondere Aufmerksamkeit durch Besuche von Herrnhuter Glaubensbrüdern und eigens für sie inszenierte Veranstaltungen und Gottesdienste erfuhr, spürte die Familie des Schamanen wohl bald die Geringschätzung, die ihnen als „primitivere Wilde“, die noch nicht die Segnungen christlicher und zivilisatorischer Missionsarbeit erfahren hatten, entgegenschlug. Die Zeitungen, aber auch Virchow wurden nicht müde, das große Gefälle zwischen den beiden Familien hervorzuheben, um den angeblich so positiven Einfluss der Missionsarbeit für die Entwicklung des „menschlichen Potentials“ der „Eskimo“ zu belegen. Hinzu kommt, dass selbst Abraham und seine Familie ihrer christlichen Überzeugung wegen Distanz zur heidnischen Familie hielten. Schon früh vermerkte Abraham in seinem Tagebuch. „Unsere Mitmenschen, die Fuchsfamilie, hören auf vergnügt zu sein, weil sie müde sind der Leute.“ Als nicht allzu lange danach Frau und Kind des Schamanen gestorben waren, äußerte dieser als gebrochener Mann gegenüber Abraham den Wunsch, Christ zu werden. Vielleicht erschien ihm dies als einzige Möglichkeit, mit anderen Menschen seine Trauer zu teilen. Abrahams Familie suchte derzeit bereits Zuflucht in ständigen Gebeten, um den schmerzlichern Verlust einer Tochter zu bewältigen. Die Völkerschau mit den Labrador-Eskimo endete schließlich im Fiasko mit dem Tod aller „menschlichen Objekte“ voyeuristischer Begierde.

Im Buch werten zusammenfassende Kapitel die vorgestellten Zeitdokumente aus. Bemerkenswert ist dabei die Fairness, mit der die Autoren vorgehen. Es geht nicht darum, agitatorisch zu denunzieren, sondern das Bewusstsein für die tragischen Vorgänge und ihre Ursachen zu schärfen. Das Wirken der Herrnhuter Missionare und ihre Intentionen sind ausgewogen beurteilt worden. Auch Hagenbecks Wirken wird mit seinen Verdiensten um eine fortschrittliche, humanere Behandlung der Zootiere kontrastiert. Virchow wird nicht nur alleine durch sein Unvermögen, die Situation der Inuit zu erfassen und für einen angemessenen Rahmen der Begegnung zu plädieren, charakterisiert. Vielmehr wird diese Schattenseite der Person Virchows mit seinen offensichtlich vorhandenen Verdiensten als engagierter Sozialreformer und Märzrevolutionär in Kontrast gesetzt. Virchow war in mancherlei Hinsicht eben Kind seiner Zeit und durch seine exponierte Stellung in der Gesellschaft Einflüssen und Erwartungshaltungen ausgesetzt, die sein Verhalten prägten und trotz seiner sozial-liberalen Einstellung nicht auf allen Gebieten gleichermaßen ein kritisches Hinterfragen bestehender Verhältnisse förderten. Aber auch eine gewisse „Eitelkeit“ auf seine Errungenschaften als Wissenschaftler war wohl die Ursache dafür, dass die durchaus berechtigte Kritik von J.K. mehr verletzten Stolz als Selbstkritik zur Folge hatte.

Der Artikel von J.K. darf jedoch als hochinteressante zeitgenössische Quelle gewertet werden, die zeigt, dass auch im wilhelminischen Deutschland mit all seinen Schattenseiten wie Militarismus und kolonialen Ansprüchen auch andere, aufgeklärte Geistestraditionen existierten, die einen erstaunlich fortschrittlichen Humanismus mit scharfer Auffassungsgabe und Einfühlungsvermögen in andere Menschen vertreten haben. Den Initialen J.K. ihren anonymen Charakter zu nehmen und herauszufinden, wer sich dahinter verbirgt, ist ein Desiderat und könnte vielleicht eine Überraschung zu Tage fördern. Zumindest hat das Buch J.K. bereits als unerschrockener Kämpfer wider den Strom gegen die zurecht als schwach bezeichneten Anklagen Virchows rehabilitiert.

The Diary of Abraham Ulrikab (Cover: University of Ottawa Press) Vor allem aber hat das Buch die Stimme Abrahams der Vergessenheit entrissen und seine Geschichte nochmals seinem Volk erzählen lassen. So traurig die Geschichte auch sein mag, ist es vielleicht auch ein gewisser Trost zu erfahren, dass nicht alle Europäer dem Leiden Abrahams und seiner Reisegefährten gegenüber stumpf und unbeteiligt geblieben sind. Abgesehen von der eher hilflosen Betroffenheit der Organisatoren der Völkerschau, die teils in Verdrängung umschlug, lässt vor allem die Person J.K. Hoffnung schöpfen, fordert sie doch eine andere Form der Begegnung zwischen den Kulturen, die frei von rassistischen Vorurteilen in geschütztem Rahmen mit gegenseitigem Respekt stattfinden sollte. An diesen Appell knüpft in gewisser Hinsicht verspätet das Projekt von H. Lutz an, das in seiner Bemühtheit um die Aufarbeitung der damaligen Vorgänge den Inuit im übertragenen Sinne die Hand reicht, um sich auf gleichberechtigter Ebene über ein gemeinsames Stück unglückliche Vergangenheit zu verständigen und andere Wege der Kontaktaufnahme zwischen fremden Kulturen zu gehen. Ein vorbildliches Projekt, das Seminarbeiträge von Studenten nicht in den Regalen von Universitäten verstauben lässt, um dann schließlich im Altpapier zu landen. Dass die Referentin Kerstin Knopf, die das Buch im Amerikahaus vorgestellt hat, nicht zu den Herausgebern zählt, wie man erwarten würde, spricht abermals für einen Teamgeist, der alle Mitglieder der Institution in die Verbreitung ihrer Arbeitsergebnisse einschließt.

Vorteilhaft ist der vergleichsweise knappe Umfang des Buches (168 Seiten), das bei solidem Nachweis aller Quellen ohne einen großen kritischen Apparat auskommt. Stattdessen erfolgt eine Konzentration auf die wesentlichen Punkte. Das ist letztlich auch wichtiger als Heerscharen von Anmerkungen, es sei denn, man wolle wie Virchow seitenweise anthropometrische Daten anhäufen, die letztlich wenig zum Verständnis von Kultur beitragen. Gerade die prägnante Kürze, die der Darstellung nichts an ihrer Dramatik nimmt, dürfte viele Leser einladen, das Buch in die Hand zu nehmen und auch wirklich zu Ende zu lesen. Erfreulich ist auch die Einbindung von prominenten Persönlichkeiten wie Hans-Ludwig Blohm und des mittlerweile leider verstorbenen Alootook Ipellie, die beide als gleichermaßen intime Kenner der Inuit-Kultur im Vorjahr zu Gast im Amerika Haus waren und dem Buch zusätzlich authentische Autorität verleihen.

Das Buch ist aufgrund seiner Geschichte und der Thematik für viele Kreise interessant, nicht nur für Unterstützer indigener Völker. Ethnologen führt es ein mustergültiges Projekt vor Augen. Wer aus diesen Kreisen ernsthafte Ambitionen hat, sollte es als Pflichtlektüre betrachten. Geisteswissenschaftler verschiedenster Couleur fordert es heraus, aktuelle Forschungsmoden kritisch zu hinterfragen. Aus Sicht des Historikers ist es ein guter Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des deutschen Kaiserreiches, das sehr lebendig ein Stück Mentalität dieser Zeit vor Augen führt. Die Knappheit der Texte könnte das Buch auch als Basis für fächerübergreifende Schulprojekte geeignet machen (z.B. in den Fächern Deutsch, Geschichte, Religion).

Der vdL:Verlag.setzt hiermit sein Programm ausgezeichneter Büchern zu völkerkundlichen Themen fort, dem eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen ist (vgl. hierzu die Besprechung von „Die Stimme des Nordens“ von Hans-Ludwig Blohm im Coyote 4/2002).

Erstellt von oliver. Letzte Änderung: Montag, 27. September 2021 15:35:00 CEST von oliver. (Version 9)