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Aram Mattioli: Verlorene Welten – Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas

Verlorene Wissenschaft
Über eine weitere „Geschichte der Indianer Nordamerikas“
gelesen von Dionys Zink

In der wissenschaftlichen Literatur dessen, was früher Völkerkunde oder Ethnologie geheißen hat, und heute Kulturwissenschaften außereuropäischer Räume oder so ähnlich, gibt es das Phänomen schon seit Anbeginn. Ein Autor beschreibt beispielsweise ein Zeremonial- oder Verwandtschaftssystem bei einer indianischen, - pardon! - bei einer indigenen, nordamerikanischen Ethnie als ginge es um eine Gegenwart. Dabei sind die beschriebenen Sachverhalte oft längst Vergangenheit, weil die Kulturträger einem Ethnozid zum Opfer gefallen sind. Man nennt diese Erscheinung das ethnologische Präsens, und wer sich mit dieser Literatur befasst, weiß um die Misslichkeiten, wenn er oder sie das besagte Zeremonial- und Verwandtschaftssystem in der Wirklichkeit zu suchen beginnt.

Mit den eigentlichen Geschichtswissenschaften verhält es sich etwas anders. Geschichte als Wissenschaft befasst sich mit der Vergangenheit und das färbt auch auf die Wissenschaftler selbst ab, die sich zumeist mit einer eher skeptisch-konservativen Haltung ihres Gegenstands zu bemächtigen suchen. Geschichte wird eben nicht dauernd umgeschrieben, wenn sie denn als seriös gelten soll. Dennoch muss Geschichte in jeder Generation immer wieder neu erzählt werden, damit das Wissen nicht verlorengeht, das die Ausgangspunkte des Menschen definiert. Und es ist keineswegs nur eine Schulweisheit, dass nur wer weiß, woher er kommt, auch wissen kann, wohin er geht.

So gesehen ist es zunächst ein verdienstvolles Unterfangen, dem sich der Schweizer Professor für Neueste Geschichte Aram Mattioli von der Universität Luzern unterzogen hat. Sein Geschichtsbuch „Verlorene Welten – Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas“ ist die neue Erzählung einer alten Geschichte von der Zerstörung der indigenen Zivilisationen im Gebiet der heutigen USA. In sieben Kapiteln werden exemplarisch frühe Frontier, der Widerstand gegen den Trail of Tears, die Ausrottung der kalifornischen Indianer, der Krieg gegen die Jägerkulturen der Plains und die angebliche Schlussphase indianischer Kulturen am Ende des 19. Jahrhunderts dargestellt.

Leider entkommt Mattioli trotz erklärter Anstrengungen den ideologischen Voraussetzungen der (europäischen) Geschichtswissenschaften nicht. (Selbst-)kritisch wird in einleitenden Vorbemerkungen eingeräumt: „Doch inzwischen vertritt eine Reihe von angesehenen Historikern die Ansicht, dass die USA in ihren von Gouverneuren regierten Territorien eine koloniale Fremdherrschaft über die First Peoples errichteten und ihnen gegenüber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als kolonisierende Macht auftraten.“ (Einleitende Bemerkungen, S.21) Was hier als gutgemeinte Korrektur des überlieferten Geschichtsbildes daherkommt, kann auf den zweiten Blick als dessen Festschreibung verstanden werden. Rhetorisch dagegen gefragt: Was heißt denn „bis weit ins 20. Jahrhundert“? Soll das bedeuten, es gebe heutzutage (21. Jahrhundert!) keine kolonisierenden Mächte mehr und die Interessenkonflikte zwischen Ureinwohnern und Rohstoffkonzernen im Bündnis mit allzu willfährigen Regierungen seien dann demnach nur die üblichen Konflikte innerhalb postindustrieller Gesellschaften?

Leider stellt sich dann im Weiteren heraus, dass dieses Geschichtsbild eben doch nicht neu erzählt wird, sondern immer noch das alte ist: „Die koloniale Fremdbestimmung gipfelte im späten 19. Jahrhundert in dem Sozialexperiment, die nunmehr in Reservaten konzentrierten Indianer so vollständig ihrer traditionellen Kultur zu entfemden, bis sie schließlich im Mainstream der US-Gesellschaft auf- und damit untergingen.“ (ebenda) Wie absurd derartig pauschale Behauptungen klingen, lässt sich mit einem einfachen Test überprüfen: „Die europäische Fremdbestimmung gipfelte im 20. Jahrhundert in dem Sozialexperiment, die nunmehr in Kantonen konzentrierten Schweizer so vollständig ihrer traditionellen Kultur zu entfremden, bis sie schließlich, wann immer möglich, in den EU-Supermärkten der Nachbarstaaten einzukaufen begannen.“ Die Reaktionen der akademischen Hörerschaft Luzerns kann man sich lebhaft vorstellen.

Mit alten Schulweisheiten und jeder Menge Informationen über die indianische Gegenwart im Kopf (siehe oben) bleibt als Fazit zweierlei:

  1. Die Geschichte der Indianer muss immer wieder neu erzählt werden. Es ist ein eigenes Verdienst Mattiolois, dies mit Sachkunde und Verstand auch zu tun.
  2. Es ist an der Zeit, dass sich die Geschichtswissenschaften von Epochengliederungen verabschieden, deren primärer Zweck die Historisierung ethnozidaler Vorgänge mit dem offenkundigen Ziel der Täterentlastung bis in die Gegenwart ist.

Deswegen bedarf jede neue oder neu erzählte Variante der „Geschichte der Indianer Nordamerikas“ einiger Kapitel, welche die Kontinuität kolonialer Prozesse bis in die Gegenwart erklären. Andernfalls beteiligt sich die Wissenschaft ein weiteres Mal an der Umsetzung dessen, was als programmatische Formel in den frühen Reservationsjahren galt: „Kill the Indian in him and save the man.“

Der Versuch einer Geschichtsrevision ohne die kritische Überprüfung der eigenen Positionen muss zwangsläufig an die bekannten Grenzen des historischen Erkenntnisgewinns stoßen.

Mattioli, Aram, Verlorene Welten – Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas ist bei Klett-Cotta in Stuttgart erschienen. Die gebundene Ausgabe im Umfang von 264 Seiten kostet 26,00 €.

Erstellt von dionys. Letzte Änderung: Montag, 10. Februar 2020 12:43:31 CET von oliver. (Version 5)

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